Recycling < 4.0

Recycling 4.0 ist im Grunde ganz einfach, erklärte Ansgar Fendel. Doch deckt sich die heutige Realität nicht mit den Wunschvorstellungen. Abfallwirtschaft und Industrie sollten besser kooperieren, empfahl der Geschäftsführer von Remondis Assets & Services auf der Berliner Recycling- und Rohstoffkonferenz am 7. März 2017.

Alles läuft zentral über die Cloud. So speist beispielsweise ein nicht mehr benötigtes Elektrogerät dort seine End-of-Life-Daten ein, kommt in eine Tonne, die ihre Füllmenge ebenfalls an die Cloud meldet. Die Tonne wird in ein per Telematik vernetztes Sammelfahrzeug entleert, das per Datenübertragung der Smart Sorting Facility die anzuliefernden Materialien meldet. Diese Daten werden an die Cloud übermittelt, die Angaben über Rohstoffpreise, Materialqualitäten und Mengen zurück an das ERP-System der Sammelstelle meldet, sodass mit dem Verkauf der Wertstoffe begonnen werden kann. Gleichzeitig liest im Werk eine hochautomatisierte Sortieranlage die Informationen auf den Tags oder RFIDs sensorbasiert per LIBS, M/N-IR oder Xray aus. Die Materialien werden getrennt in sortierte Metalllegierungen, farb- und sortenreine Kunststoffe sowie (Vor)Konzentrate wie Seltene Erden. Reststoffe sind für die Müllverbrennung vorgesehen.

Soviel zur Theorie. Die Realität sieht anders aus. Die Stoffbestimmung von Abfällen scheitert bereits an der Vielfalt der eingesetzten Materialien, deren unterschiedlicher Konzentrationen, diversen Verbunden oder Legierungen und „recyclingunwilligen Stoffen“. Zwar hat sich die Sortiertechnik zum Aufschluss der Materialien weiterentwickelt; dennoch bleibt die Frage nach der Sortiertiefe, die eng mit der Wirtschaftlichkeit zusammenhängt. Zudem sind die Aufbereitungswerke weder mit den vorgelagerten Stoffproduzenten noch mit den späteren Abnehmern vernetzt, sodass sie nicht in der Lage sind, auf geänderte Stoffströme reagieren zu können. Auch besteht der Anachronismus, dass zur Produkt- und Materialentwicklung Milliarden in die Erforschung neuer Stoffe investiert wird, während gleichzeitig Milliarden investiert werden, um das Recycling der gleichen Materialien zu erforschen, obwohl schon viele Daten vorliegen.

In der Entropie-Falle?  

Reagiert die Abfallwirtschaft nur auf Recycling 4.0 oder agiert sie mit der Industrie? Zu erwarten sind vernetzte Produktionszyklen, globale Anlieferungen von Komponenten, die Kombination konventioneller Technik mit Elektronik („Internet der Dinge“), der Trend zu Miniaturisierung und Kompaktbauweisen, kleinere Stückzahlen, Stoffmischungen für Funktionsmaterialien oder auch schnellere Produktentwicklungen. Kurz: Die Abfallströme werden zunehmend komplexer und ändern ihre Geschwindigkeit. Hier, befürchtet Ansgar Fendel, läuft die Abfallwirtschaft Gefahr, in die Entropie-Falle zu geraten.

Entropie bezeichnet laut Duden „das Maß für den Grad der Ungewissheit über den Ausgang eines Versuchs“. Auf die Abfallwirtschaft übertragen bedeutet Entropie, einen ergebnisoffenen, aber stabilen Zustand zu erreichen. Er ist so lange möglich, wie im Produktlebenszyklus eines Materials dieses im Produkt benutzt, zu Abfall und schließlich stofflich aufgeschlossen wird. Ist für die Sortierung von Abfallmaterial jedoch zusätzlicher Energieaufwand nötig, wird die Entropie-Grenze überschritten: Die Entropie-Verringerung – also weniger „Ungewissheit“ über die Abfallmaterialien – durch zusätzlichen Aufwand rentiert sich nicht mehr. Der Materialaufschluss ist nur dann nachhaltig, wenn der Aufwand zur Herstellung von Sekundärrohstoffen über dem Aufwand für Primärrohstoffe liegt, und er ist wirtschaftlich, solange der Preis für die Sekundärrohstoff-Produktion mit dem der Primärrohstoff-Produktion konkurrieren kann. Es gibt also durchaus Materialien, deren Recycling nicht wünschenswert ist – im Medizin- und Hygienebereich ist dies gang und gäbe.

Mehrere Wege zum Recycling 4.0

Auch die Automobilindustrie liefert dafür ein gutes Beispiel: Hier kommen zunehmend Funktionsmaterialien, Kompaktbauweise und hochfeste Stoffe zum Einsatz und lassen hochintegrierte Materialsysteme entstehen, deren Recycling hohe Herausforderungen stellt. Carbonfaserverstärkter Kunststoff (CFK) gilt als Wunderwerkstoff, stellt bislang das Recycling aber vor unüberwindbare Hürden: Von Müllverbrennungsanlagen wird das Material aus technischen Gründen nicht angenommen, der Einsatz in faserverstärktem Beton wirft Verwertungsfragen auf, und bisherige Recyclingverfahren sind komplex und kapitalintensiv. Kunststoffe – die Datenblättersammlung eines Compoundeurs listet 2.777 Stoffe auf – können komplexe Verbunde bilden, sie können Fremdmaterialien enthalten, ihre Kennzeichnung ist problematisch und ihr Recycling ist kapitalintensiv und birgt daher Marktrisiken. Und die Legierungen und Verbindungen von Metallen benötigen hohe Aufschlussenergie, ihr mehrfaches Recycling kann unerwünschte Legierungsbestandteile aufkonzentrieren, und zunehmende elektronische Komponenten erhöhen den problematischen Kupferanteil im Stahl. Kurz: Trotz verfügbarer Sensortechnik ist die Verfahrenstechnik limitiert und das Recycling kapitalintensiv. Die Abfallwirtschaft hat es folglich mit zunehmender Materialvielfalt, komplexeren Abfallströmen, kürzeren Produktzyklen und höheren Anforderungen an Sekundärrohstoffen zu tun. Dem muss sie mit schnell zu modifizierenden komplexen Aufbereitungsanlagen und hohen Investitionen entgegenkommen und gleichzeitig die Frage beantworten: „In welcher Zeit kriegen wir das heute noch amortisiert?“

Mehrere Wege führen zum Recycling 4.0. Dazu gehört unter anderem eine Produktentwicklung mit End-of-Life-Betrachtung, unterstützt durch frühzeitigen Informationsaustausch zwischen Herstellern und Recyclingindustrie und begleitet durch gemeinsame Forschung und Entwicklung. Wissenschaftlich erarbeitete  Prognosewerkzeuge sollten Änderungen in Produktentwicklung und -zyklen vorhersehbarer machen. Neue Erfassungssysteme und Aufbereitungsfabriken könnten sich dynamisch und flexibel an veränderte Stoffströme anpassen. Und es sollten geeignete wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen gegeben sein, um diesen steigenden Entwicklungsbedarf im Recyclingsektor zu ermöglichen. Dann bleibt der Recyclinggedanke keine „illusionäre Wunschvorstellung“.

Foto: Steinert

(EUR0417S56)

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