Chancen und Hemmnisse für eine Abfallwirtschaft 4.0

Einzelne Produktionsprozesse und ganze Wertschöpfungsketten so zu dirigieren, dass Kapazitäten optimal ausgelastet werden – dieses Konzept einer Industrie 4.0 dürfte nur bedingt auf die Entsorgungswirtschaft übertragbar sein. Wenn darunter allerdings Web-basierte Prozesssteuerungen und vernetzte Sensorik verstanden wird, dann entwickelt sich zumindest die Entsorgungslogistik mithilfe der Telematik tatsächlich in Richtung auf eine digitalisierte Branche zu.

Was sich deutlich an den Entsorgungsfahrzeugen zeigt, bei denen ein Bordrechner das Herzstück der IT-Unterstützung bildet. Diese zentrale Recheneinheit ist – wie ein Info-Blatt von BDE und VKU aufschlüsselt – beispielsweise über eine Flotten-Management-Schnittstelle (FMS) an den CAN-Bus (Controller Area Network) angeschlossen, sammelt Fahrzeug- und Fahrzeugaufbau-bezogene Daten und gibt diese an zusätzlich angeschlossene Geräte weiter. Die integrierte GPS-Ortung ermöglicht das Abrufen von Standortinformationen. Auftrags- und fahrzeugbezogene Daten können im Bordrechner gespeichert oder über Global System for Mobile Communications (GSM-Netz) zwischen Fahrzeug und Leitzentrale ausgetauscht werden.

Per Telematik immer stärker vernetzt

Praktisch bedeutet das den möglichen Austausch von Informationen zu gefahrenen Kilometern, Fahrzeuggeschwindigkeit, Achsgewicht, Reifendruck und Befüllungsgrad, aber auch Angaben über auch Arbeitszeiten, Lenk- und Ruhezeiten und Betriebsstunden. Die daraus zu generierenden Leistungsdaten und Kennzahlen erlauben das Einleiten von Routinen, wie zum Beispiel Wartungsintervallen und das frühzeitige Erkennen von Fahrzeugproblemen, aber auch Definition und Kontrolle von Kennzahlenzielen zur langfristigen Steigerung der Fuhrparkeffizienz.

Zunehmend werden dadurch – wie der letzte Telematik-Anwendertag des WFZruhr und die kürzliche Telematik-Fachtagung der Couplink Group AG offenlegte – die Fahrzeuge per Telematik immer stärker und enger mit allen Transportbeteiligten und Branchenparteien vernetzt, um die Einsätze so wirtschaftlich wie möglich zu organisieren: durch möglichst sparsame Transport-Kilometer, weniger Personaleinsatz, geringere Daten-Erfassungsfehler, vermeidbare Übertragungsfehler und die Entleerung möglichst voller Behälter. Hier sieht die BDE-Fachreferentin Dr.-Ing. Sandra Giern durchaus Optimierungschancen. So könnte beispielsweise durch die Identifizierung von Barcode- oder RFID-markierten Behältern die Datenerfassung erleichtert und eine Verbindung zur Tourenplanung hergestellt werden, zumal die manuelle Nachbereitung der Daten entfällt. Denn die Auftragsbearbeitung erfolgt automatisiert ab Erfassung bis Rechnungslegung.

Kundenorientiertes Entsorgungsmanagement

Foto: Solveig Schmidt | EKM Mittelsachsen | abfallbild.de

Auch könnten – wie ein Pilotprojekt in Barcelona ergab – beispielsweise Sensoren berührungslos die Füllstände von Abfallbehältern messen, die Werte automatisch an die Cloud melden, Abholungen abhängig vom Füllstand auslösen und somit Voraussetzungen für eine gezielte, vom System selbstständig ausgearbeitete Tourenplanung schaffen. Ohnehin eröffnet eine datengestützte Tourenoptimierung die Möglichkeit, Tourenabläufe ohne Ortskenntnisse festzulegen, kurzfristig auf Staus oder Sperrungen zu reagieren und mittels heuristischer Verfahren die beste Alternative zum Abfahren eines Gebietes zu ermitteln.

Derartige Optimierungen sind auch für den gewerblichen Bereich möglich, bei denen der Kunde die Entleerung bestimmt, die das Tourenplanungssystem dann selbstständig verarbeitet und an den Fahrer weitergibt. Die BDE-Fachreferentin Sandra Giern nannte das in ihrem Vortrag auf der Recycling-Technik 2017 in Dortmund ein „kundenorientiertes Entsorgungsmanagement“. Im ausschließlichen Entsorgungs- und Transportlogistik-Bereich – so lässt sich resümieren – scheinen sich Investitionen in die Digitalisierung zu rentieren.

Auf „smarte Technologie“ hinarbeiten

Für Prof. Dr.-Ing. Görge Deerberg von Fraunhofer Umsicht bedeutet Industrie 4.0 die Verbindung von Produktion und Internet der Daten und Dienste mit dem Internet der Dinge. Um zu „smarter Technologie“ zu gelangen, seien die Verknüpfung physischer Dinge, die Integration cyber-physischer Prozesse in Produktion und Logistik, in Produktionsabläufe integrierte IT-gestützte Prozesse (vertikale Verknüpfung) sowie die Vernetzung in Wertschöpfungsketten (horizontale Verknüpfung) wesentlich.

Aktuell sieht er für eine Abfallwirtschaft 4.0 Möglichkeiten in einer RFID-basierten Optimierung der Entsorgungslogistik, einer sensorischen Erfassung von Behälterfüllständen, einem verursachergerechten Abrechnen der Müllmenge mittels Chipsystem sowie einem barcode-gestützten Informationssystem zur Abfalltrennung. Des Weiteren erkennt er Optimierungschancen durch Unterstützung bei Anlagenbetrieb und Wartung, eine zentrale Datenbank für Produktionsbestandteile sowie ein „App-gestütztes System zur optimierten Nutzung von Ressourcen beim Gebäuderückbau“. Deerberg räumt jedoch selbst ein, dass sich eine Industrie 4.0-Anwendung vorwiegend noch auf die Steigerung der Erfassungs- und Entsorgungslogistik bezieht.

Effekte für abfallwirtschaftliche Prozesse prüfen

Wie im Bereich von Wartung und Instandhaltung intelligente Geräte und Maschinen vom Innovationstrend erfasst werden sollen, lässt Görge Deerberg allerdings offen; vielmehr sei „für die abfallwirtschaftlichen Prozesse selbst zu prüfen, wie sie von diesem technischen Fortschritt profitieren können“.

Konkreter fallen die Vorschläge zur Verbesserung der Ressourcenrückgewinnung in der Automobilbranche oder bei Elektroschrott aus. Für Materialdaten von Altfahrzeuge besteht bereits ein global standardisiertes Austausch- und Verwaltungssystem: das Internationale Materialdatensystem (kurz: IMDS), das Aufschluss über stoffliche und chemische Zusammensetzungen von Bauteilen, Halbzeugen und Werkstoffen gibt. Ihre Verfügbarkeit erleichtert die Identifikation des Materials und bietet erkennbare Ressourcenpotenziale. Vergleichbar dazu gibt es auch im Bereich von Elektro(nik)geräten und elektr(on)ischen Gerätebauteilen herstellerseitige Kennzeichnungssysteme: Hier verwendete Transponder-Identifikationsnummern (kurz: Tag ID) liefern Produkt-Codes, die über Datenbanken wichtige Informationen zur Stoff-Erkennung, -Weiterverwendung oder -Weiterverwertung an die Hand geben.

Nur bei geeigneten Recyclingverfahren

Foto: Petra Hoeß, FABION Markt + Medien / abfallbild.de

Allerdings stehen derartige Informationen über Tag IDs oder RFIDs zurzeit nur für Komplettgeräte oder spezielle Baugruppen zur Verfügung. Innovative Abhilfe wäre zukünftig aber über chemische Markierungen denkbar, die auch noch bei zerkleinertem Material beispielsweise die Zusammensetzung von Speziallegierungen oder Störstoffen wie Flammschutzmitteln die Identifizierung zulassen könnten. Sie würden ebenfalls die Entscheidung darüber erleichtern, ob eine zerstörende Demontage und mit anschließendem stofflichen Recycling oder eine Komplett-Entnahme mit gezielter Aufbereitung und Weiterverwendung erfolgen soll.

Dazu müssen allerdings nicht nur geeignete Recyclingverfahren zur Verfügung stehen, die – wie das „Upgrade“-Projekt zur Verbesserung der Rückgewinnung von Spurenmetallen aus Elektro- und Elektronikaltgeräten zeigt – sich teilweise noch in der Entwicklung befinden. Auch sollten die Recycler von Sekundärrohstoffen oder Ersatzteilen mit potenziellen Abnehmern im produzierenden Gewerbe vernetzt sein, um – sofern der Rückgewinnungsprozess überhaupt technisch möglich ist – zu prüfen, ob er auch wirtschaftlich sinnvoll ist.

Datenbankgestützte Gebäudekalkulation?

Datenbanken sollen auch Unterstützung bei der Rückführung von ganzen Baugruppen oder Bauteilen in die Produktherstellung leisten. Das BMBF-geförderte Projekt „RessourceApp“ sah dazu eine modellgestützte Rückbauplanung vor, bei der eine Software die geometrische Strukturen und Bauteile wie Wände, Decken, Fenster, Türen, Steckdosen oder Heizkörper erkennt. Bildbasierte Erkennung und 3-D-Rekonstruktion des Gebäudes fließen ebenso wie DIN-Normen und Erfahrungswerte aus der Literatur in die Kalkulation ein. Durch die Verknüpfung mit Datenbanken und Normen soll auf verdeckte Bauteile wie Leitungen geschlossen, die Rohstoffmassen des Gebäudes errechnet und basierend auf einem in der Software hinterlegten Inventarschlüssel das zu erwartende Ressourcenpotenzial geschätzt werden. Das Ergebnis soll dem Vernehmen nach schon bei der Begehung über eine Smart-Phone-Anwendung angezeigt werden können.

Der Abschlussbericht des Projekts meldet zwar großes Interesse bei insbesondere Rückbauplanern, Rück­bauunternehmen und Architekten, meldet aber auch zusätzlichen Forschungsbedarf, die Notwendigkeit besserer Sensoren und leistungsfähigerer Rechner sowie weitere Praxistauglichkeitstests an. Außerdem ist zu lesen, dass für eine gezielte Nutzung der Stoffströme wie Metalle oder mineralische Baustoffe beziehungsweise deren Entsorgung im Fall von Schadstoffen derzeit eine belastbare Datenbasis völlig fehlt.

Wenige Voraussetzungen für 4.0

Foto: Harald Heinritz / abfallbild.de

Für eine Recyclingwirtschaft 4.0 fällt – im Gegensatz zur Entsorgungslogistik – das Urteil über mögliche Steigerungen der Ressourceneffizienz durch intelligentere Informationstechnologie eher mager aus. Rückgewinnungsstraßen, die sich nach dem Plug-and-Play-Prinzip aufbauen und sich durch eigenständigen Abgleich ihrer Anlagen und Maschinen untereinander zu einer produktgesteuerten Fertigung organisieren, darf man in absehbarer Zukunft nicht erwarten.

Zu den Voraussetzungen für eine Implementierung von 4.0 in der Abfallwirtschaft gehören neben Sensorik und IT-Infrastruktur auch Standardisierung, Offenheit und Sicherheit. Standardisierung ist angesichts wechselnder Materialien, Sicherheit angesichts wechselnder Verordnungspolitik und Markt-Bedingungen und Offenheit angesichts vager Aussichten auf Zusatznutzen durch Digitalisierung wenig opportun. Bevor die Kreislaufwirtschaft kein geschlossenes System ist, sind auch wenige Voraussetzungen und Ansatzpunkte für eine Verwertungswirtschaft 4.0 gegeben.

Physical Internet zur Sekundärrohstoff-Logistik

Über eine stärkere Digitalisierung des Transportbedarfs nach dem Recycling – eine „Sekundärrohstoff-Logistik“ – ist bislang noch wenig nachgedacht worden. Dennoch liegt auch hierzu ein System vor: das Physical Internet. Die Idee dahinter: Auf europäischen Straßen sind die Laderäume der Lkw nur zu 60 Prozent gefüllt; der Rest ist leerer Stauraum. Der Gütertransport könnte und müsste angesichts steigender Transportvolumina effizienter und damit wirtschaftlicher werden. Optimierte Nutzung von Kapazitäten könnte Kosten sparen, Emissionen reduzieren, Schwund vermindern und Lieferzeiten verkürzen – durch Ausnutzung von Lkw-Laderäumen und Vermeidung von Leerfahrten. Eine Internetplattform, dezentrale Hubs und ein einheitliches Modulsystem für verschiedene Behältergrößen führen zu einer Synchronisierung der eingesetzten und freien Transportmittel. Ein dezentrales Logistiksystem mit zentralen Verladestationen: Es bewirkt, dass lange Überlandfahrten durch kurze, individuell zu befahrende Abschnitte ersetzt werden und der Verkehr in den Städten entlastet wird. Als Voraussetzungen dienen ein System modularer Stationen, ein sicherer Zugang zu Informationen und ein nachhaltiges Geschäftsmodell.

In der Praxis bedeutet das: Waren und Stoffe werden in Containern wie Emails versandt – für Auftraggeber und Empfänger nicht „nachvollziehbar“, aber aus logistischer Sicht auf dem effektivsten Wege. Die Informationen zu den Gütern sind in elektronisch lesbarer Form auf den Containern angebracht und finden, analog zum digitalen Internet, selbstständig ihren Weg bis zum Ziel. Es gab bereits erste Versuche im Rahmen des EU-geförderten Modulushca-Projekt (Modular Logistics Units in Shared Co-Modal Networks), um die praktikabelsten Größen von Containermodulen für schnelllebige Konsumgüter zu ermitteln. Das Modulushca-Projekt sollte eine Grundlage für ein ineinandergreifendes, weltweites Logistiksystem bis 2030 schaffen, konnte aber vorerst nur die Konstruktion einiger Transportboxen realisieren.

Noch Bedenken und Vorurteile

Laut Prof. Dr. Christian Landschützer vom Institut für Technische Logistik an der TU Graz fehlt bislang ein übergreifendes Konsortium, damit sich konkurrierende Handelsunternehmen zusammentun. Es besteht weiterhin Interesse an dem Objekt: Die Initiative Alice (Alliance for Logistics Innovation through Cooperation in Europe) wurde von Industrie und Forschungsunternehmen gegründet, um Logistik und das Management von Lieferketten zu verbessern und die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

Vorerst muss sich die Initiative noch mit einer Reihe von Bedenken und Vorurteilen hinsichtlich Datensicherheit, Kundennachfrage, Partnersuche, rechtlicher Richtlinien und Gewinnverteilung befassen, aber auch Antworten auf Fragen zu Innovationen, praktischer Umsetzung, Kriminalitätsbedrohung oder länderübergreifender Zusammenarbeit finden. Ob das Physical Internet in Europa durchsetzungsfähig ist und einmal Effizienzvorteile auch für die Abfallwirtschaftslogistik bringen wird, ist daher heute noch nicht absehbar.

Segen und Fluch

Was aber schließlich bei all diesen Projektionen in die Zukunft mitgedacht werden muss: Web-basierte Prozessteuerungen und vernetzte Sensorik bieten der Industrie die Möglichkeit, ihre Prozesse genauer zu erfassen und individueller zu steuern und ihre Kapazitäten optimal auszulasten. Dr. Peter Jahns, Leiter der Effizienz-Agentur NRW, sieht darin ein gewaltiges Potenzial: „Experten erwarten in den kommenden Jahren durch Industrie 4.0 eine Steigerung der Gesamtproduktivität von bis zu 50 Prozent.“ Und er schließt daraus: „Gleichzeitig wachsen die Chancen zur Vermeidung von Abfallmengen dank bedarfsgerechter Produktion.“ Damit wäre die Digitalisierung für die Abfallwirtschaft beides: Segen und Fluch.

Foto: IdeeID / fotolia.com

(EU-Recycling 10/2017, Seite 10)

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