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Wasser 4.0: Revolution oder Evolution?

Die Zahl 4.0 und das Stichwort Digitalisierung beeinflussen seit einiger Zeit die Planvorstellungen und Zukunftsvisionen der deutschen Industrie. Und haben auch vor der Wasserbranche nicht Halt gemacht. Daraus erwuchsen Vorstellungen von Wasser 4.0, Wasserwirtschaft 4.0, Wasserversorgung 4.0 oder einer Smarten Wasserwirtschaft. Der Global Opportunity Report 2017 verheißt dem Smart Water-Markt sogar ein internationales Anwachsen von sieben Milliarden Euro im Jahr 2016 auf 16,7 Milliarden im Jahr 2021. Doch wie auch bei der Entsorgungs- und Abfallwirtschaft: Die Wasserbranche lässt sich nicht überall und nicht von jetzt auf morgen auf digital umkrempeln.

Das Interesse an der Thematik signalisierte bereits im Oktober 2015 die German Water Partnership, als sich erstmals ein neuer Arbeitskreis „Wasser 4.0“ mit 40 Teilnehmern traf. Im März 2016 veröffentlichte dieser Arbeitskreis eine Broschüre zum Thema, in der im Schlusswort euphorisch verkündet wurde: „Die Bedeutung von Cyber-Physical-Water Systems wird an Bedeutung gewinnen und die Vernetzung zu komplexen integrierten Wertschöpfungsnetzwerken zunehmen.“ Das sah Dirk Waider, Technikvorstand der Gelsenwasser AG und Vizepräsident Wasser des DVGW, deutlich nüchterner. Sein Interview mit gwf Wasser/Abwasser trug den Titel: „Wasser 4.0 gibt es nicht.“ Zwar seien einzelne Bereiche digitalisiert, und er könne sich eine vertiefte Digitalisierung in Arbeitsprozessen, zur Effizienzverbesserung und für mehr Transparenz vorstellen. Treiber seien ein durch intelligente Zähler in Analytik und Sensorik „revolutioniertes“ Messwesen und der daraus resultierende Zugewinn an Informationen für Schadensfälle oder die Optimierung von Leitungssystemen. Waider wörtlich: „Wasser 4.0 – oder wie immer man es nennen will – wird immer in der Vernetzung mit anderen Informationen aus anderen Systemen spannend.“

Wieviel Digitalisierung ist notwendig?

Seit Mitte 2017 hat auch die Politik Witterung zur Fragestellung aufgenommen. Im Juli gab das Bundeswirtschaftsministerium den Startschuss für „Kommunal 4.0“ – einem Projekt, das Digitalisierungsgrad und -potenzial der kommunalen Wasserwirtschaft in Deutschland untersuchen soll. Zeitgleich schrieb das Umweltbundesamt ein Forschungsvorhaben zu „Chancen und Herausforderungen der Verknüpfungen der Systeme in der Wasserwirtschaft (Wasser 4.0)“ aus, das „das umweltpolitische Potenzial und die Relevanz einer digitalisierten Wasserwirtschaft und der zu lösenden Aufgaben darstellen soll“. Und bis Ende Juli gab der BDEW eine Befragung bei Wasserunternehmen in Auftrag, um herauszufinden, wie viel und welche Digitalisierung notwendig und wann riskant ist. Wozu ist eine Digitalisierung der Wasserwirtschaft nützlich? Ihre Modifizierungen betreffen eine Reihe von Komponenten: Sie verbessert Datenerhebung und Datenanalyse, ermöglicht Betrieb und Kontrolle in Echtzeit, erhöht die Betriebsflexibilität, ermöglicht die Kommunikation von Maschine zu Maschine, schafft Voraussetzungen für einen intelligenten Pumpeneinsatz, steigert Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit, installiert Frühwarnsysteme und sorgt für Cybersicherheit. Dabei fallen bereits Stichworte wie Cyber-physikalische Systeme, Big Data, Computational Intelligence, Smart City, Cloud-Daten-Management und Internet of Things. Solche Begrifflichkeiten gehören im Wasser- und Abwassersektor aber noch zur reinen Theorie.

Unter Einsatz intelligenter Technologien

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Foto: Leiblein GmbH

Fakt ist, dass in der Wasser- und Abwasserwirtschaft nahezu alle technischen Systeme direkt oder indirekt vom Niederschlag beeinflusst werden. Daher ermöglicht die zunehmende Verfügbarkeit diesbezüglicher Kenngrößen auch für kleinräumige Einzugsgebiete bessere Planungs- und Betriebsvoraussetzungen. Der sukzessiv steigende Einsatz an echtzeitbasierten Messsystemen sowie eine größer werdende Anzahl an Softwaresystemen zur Prozessüberwachung und Betriebsführung stellen einen aktuellen und deswegen wertvollen Datenbestand dar. „Übergreifende plattformbasierte Lösungen bieten daher die große Chance, aus den vorhandenen Daten durch entsprechende Analyse einen signifikant höheren Mehrwert zu erzeugen beziehungsweise zusätzliche Daten und damit Erkenntnisse für eine Verbesserung von Planung, Bau und Betrieb zu generieren“, heißt es im Fragebogen zur Vorbereitung einer „Digitalisierungsstudie 2017“.

Aus der Perspektive von Kommunal 4.0 geht es zunächst um die automatische Steuerung wasserwirtschaftlicher Anlagen und die anforderungsgerechte Planung neuer Abwassersysteme. „Durch den Einsatz von intelligenten Technologien wie zum Beispiel Sensoren oder smarten Maschinen ist es uns heute möglich, Wasserversorgungssysteme, Kläranlagen und Kanalsysteme so zu planen und zu steuern, wie es tatsächlich gebraucht wird und effizient ist – und nicht orientiert am angenommenen Maximalbedarf,“ erklärte Projektleiter Günter Müller-Czygan den Gedanken hinter Kommunal 4.0. Erst nächste, weitergehende Ziele betreffen die Verknüpfung der vielfach vorhandenen, hoch aktuellen Datenbestände einzelner Wasserbetriebe. Sie sollen verbunden und übergreifend für eine flexiblere Steuerung der Betriebe zugänglich gemacht werden, um schneller auf extreme Wetterlagen oder andere Ausnahmesituationen reagieren zu können. Was das im Alltag bedeuten würde, erklärt Dr. Steffen Wischmann, Leiter der Begleitforschung des Technologieprogramms Smart Service Welt: „Im Prinzip können Wasseranlagen – eine intelligente Verknüpfung mit genauen Wetterdaten vorausgesetzt – erkennen, dass sie sich auf einen großen Ansturm gefasst machen müssen. Das System registriert, wo Kapazitäten zur Wasserspeicherung zur Verfügung stehen und wo mit den stärksten Niederschlägen zu rechnen ist. Daraufhin könnten vorhandene Speicherräume geöffnet und die Umleitung entsprechender Wassermassen vorbereitet werden, wenn die Infrastruktur dafür vorbereitet ist. Während eines Unwetters verständigen sich die Steuerungen der Wasseranlagen untereinander, um eine optimale Verteilung zu gewährleisten.“

Über eine bloße Simulation hinaus

Es existieren bereits etliche Projekte, die über eine bloße Modellierung und Simulation hinausgehen und in Richtung auf eine vernetzte Infrastruktur zielen. In Wien wurde eine Kanalnetzsteuerung erarbeitet und umgesetzt, um die Niederschlag-Abfluss-Prozesse zu bewirtschaften und speziell die Regenwasser-Ausleitungen aus dem Kanalnetz in die Gewässer zu minimieren. In Schwäbisch Gmünd sollen zwei autarke Wasserversorgungsnetze steuerungstechnisch über ein internet-basiertes Prozessleitsystem verknüpft werden, um eine effiziente Bewirtschaftung eines Hochbehälters zu gewährleisten. Im baden-württembergischen Öhringen, wo die Fließrichtungen des Kanalnetzes und des Niederschlagseinzugsgebiets gegenläufig sind, sollen ein Simulationstool und ein Niederschlagsdaten-Portal eine übergeordnete Kanalnetz- und Stauraumbewirtschaftung ermöglichen. Der Entsorgungsbetrieb der Stadt Siegen benötigt für seine 12.000 Trockensinkkästen und 4.000 Naßsinkkästen eine webbasierte Datenplattform, die die aktuellen Zustände der Kästen erfasst: um Rückstau- und Überlaufschäden zu vermeiden, Leerfahren zu unterbinden und Kosten zu sparen.

Innerhalb eines Verbundvorhabens wurden am Beispiel des Stadtteils Wilmersdorf verschiedene Maßnahmen zur Beherrschung von Starkregen und Trockenheit simuliert und in ihren Auswirkungen auf das städtische Gesamtsystem bewertet. In einem weiteren Projekt gleichen Pumpstationen untereinander ihre jeweiligen Saugraum-Pegel über mobilfunkbasierte Kommunikation ab, um das Überlaufen stromabwärts liegender Pumpwerke zu verhindern. Am fortgeschrittensten in Richtung digitaler Vernetzung ist vermutlich die dänische Hafenstadt Århus, die alle ihre Kanal-, Rückhalte- und Steuer-Systeme überplanen ließ: Nun werden miteinander vernetzt drei Klärwerke, 75 Mischwasserüberläufe und 58 Regenwasserüberläufe in Echtzeit überwacht, um über eine integrierte Abfluss- und Wasserstandskontrolle des Abwassersystems sauberes Trinkwasser zu gewährleisten, unnötige Mischwasseraustritte zu vermeiden und die Qualität des Hafenwassers zu verbessern.

Noch zu selten angewendet

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Foto: Leiblein GmbH

Bislang werden Lösungen zur digitalen Vernetzung, die dies in Echtzeit ermöglichen würden, aber noch zu selten angewendet. Zwar erfassen die einzelnen Betriebe viele Daten; diese sind aber häufig nur intern verfügbar. Und so haben Wassser- und Abwasserbetriebe beispielsweise immer noch Probleme damit, ihre Daten aus unterschiedlichen Quellen zu erfassen, zu bündeln und verschiedenen Adressaten zukommen zu lassen – wie ehedem die Ingolstädter Stadtbetriebe, bis sie eine Möglichkeit über Reporting Modul in Verbindung mit SCADA.web, KANiO.web und NiRA.web fanden.

Von technischen Angeboten und den Möglichkeiten ihrer Umsetzung abgesehen, verhindert aber auch die Struktur der deutschen Wasserwirtschaft die Realisierung von Visionen einer digital vernetzten Infrastruktur. Nach Ansicht von Branchenkenner Siegfried Gendries fehlt es den insgesamt über 10.000 kleinen und mittelständischen Wasser- und Abwasserunternehmen in Deutschland „an den notwendigen finanziellen und kapazitativen Ressourcen sowie dem Zugang zum Know-how, um die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung und Wasser 4.0 zu bewältigen“. Vertreter kommunaler Spitzenverbände würden sogar schon eine Digitalisierung in zwei Geschwindigkeiten befürchten. In jedem Fall seien die kleinen und mittleren Wasserver- und Abwasserentsorger zumeist auf sich gestellt und auf Förderung angewiesen.

Keine Wunder erwartet

Dennoch scheint der digitale Wandel in der Praxis der Wasserwirtschaft nach und nach Einzug zu halten, beispielsweise durch intelligente Netzsteuerung oder die Automatisierung von Leitstellen. Die Ergebnisse einer im September 2017 veröffentlichten Umfrage des Verbands kommunaler Unternehmen unter seinen Mitgliedern zeigen, „dass die Chancen der Digitalisierung vor allem im Bereich der Prozessoptimierung und der Verbesserung des Daten- und Schnittstellenmanagements gesehen werden“. Zwar halten sich nur vier Prozent für „Vorreiter“. Aber rund zwei Drittel der Befragten sehen sich „auf einem guten Weg“. Jedes dritte Unternehmen schätzt, noch digitalen Nachholbedarf zu haben, oder will sich in Zukunft noch intensiver bemühen. Als Hürden gelten mögliche Lücken in der IT-Sicherheit und im Datenschutz und erhöhte Anforderungen an Qualifikation des Personals.

Ohnehin erwarten die Unternehmen von einer Digitalisierung keine Wunder, wie auch eine Umfrage von German Water Partnership unter ihren Kunden ergab: Die Befragten versprachen sich im März 2016 in erster Linie eine Steigerung der Ressourceneffizienz, optimierte Serviceprozesse und eine generelle Qualitätsverbesserung. Auch erhofften sie sich eine verbesserte Entscheidungsfindung, die Steigerung der Energieeffizienz und höhere Transparenz in Geschäftsprozessen. Und auch die Kunden – so das Fazit der VKU-Umfrage – interessiert an der Digitalisierung weniger, wie die Veränderungen bei der technischen und organisatorischen Infrastrukturbereitstellung aussehen: Für sie stehen kosten-, komfort- oder nachhaltigkeitsbezogene Entscheidungsmotive zunehmend im Vordergrund.

Keine konkrete Technologie

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Foto: Leiblein GmbH

Peter Gebhart, VDMA Wasser- und Abwassertechnik-Referent, ist überzeugt, dass zwar digitalisiertes, vernetztes Produzieren und Wirtschaften bereits in den Unternehmensalltag einzieht, aber individuell für jedes Unternehmen, für jeden Industriezweig und jedes Anwendungsfeld betrachtet werden muss. Vorstellungen wie Rückgewinnung von Wertstoffen aus Prozess- und Abwasser, weitgehende Schließung von Wasserkreisläufen, energetische Nutzung des Abwassers und Energieeffizienz hält er für „Zukunftsthemen“, während er weiterführende Abwasserbehandlung, Energieautarkie von Abwasserreinigungsanlagen, Phosphorrückgewinnung oder Wieder- und Weiterverwendung von Prozesswässern für zumindest „erwähnenswert“ hält. Dem würde auch die German Water Partnership zustimmen, die in ihrer „Wasser 4.0“-Broschüre unterstreicht: „So gesehen ist Wasser 4.0 keine konkrete Technologie; eine strenge Definition im naturwissenschaftlichen Sinne existiert nicht.“ Wasser 4.0 beschreibe vielmehr „das Zusammenspiel innovativer aktueller und zukünftiger vernetzter Technologien mit Wasser als natürlicher Ressource, Produkt oder Betriebsmittel mit dem Ziel der nachhaltigen Bewirtschaftung, Nutzung und Risikominderung unter Berücksichtigung der Interessen aller direkten und indirekten Nutzer und Stakeholder“. Und Dr. Emanuel Grün, Vorstand Wassermanagement und Technische Services von Emschergenossenschaft und Lippeverband, beendete im Januar 2017 sein Statement zur Frage „Wasserwirtschaft 4.0 – Wo stehen wir?“ mit den Worten: „Die Wasserwirtschaft 4.0 wird nicht zur Revolu­tion, sondern zur Evolution im Betriebsalltag.“

Foto: pixabay

(EU-Recycling 11/2017, Seite 13)

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