Plastic Credits: Geeignetes Übergangskonzept oder Einladung zum Greenwashing?

Plastic Credits können verstanden werden als übertragbare Einheiten, die eine bestimmte Menge an Kunststoffabfällen repräsentieren, die aus der Umwelt gesammelt und hinterher recycelt oder sicher entsorgt wurden.

Ein System aus Projektanbietern, Standardisierern, Zertifizierern, Maklern und Zertifikatekäufern ermöglicht eine Art freiwilliger Kompensation für die Produktion von Kunststoffabfällen – grob vergleichbar mit dem EU-Emissionshandelsverfahren. Das gesamte System ist allerdings mit etlichen Unsicherheiten behaftet und kein Allheilmittel für Umweltprobleme.

Geeignete Unternehmen gesucht
Erwirtschaftet werden Plastic Credits durch Projektentwickler. Als am Markt freie Unternehmungen planen, organisieren und verantworten sie Sammlung und/oder Recycling von Kunststoffabfällen. Je nach Aufgabe müssen Projektentwickler geeignete Ansätze zur Kooperation mit den öffentlichen, für die Abfallbewirtschaftung zuständigen Behörden entwerfen. Sie müssen geeignete Abfallunternehmen am Projektstandort finden und beauftragen, die die Aufgaben personell, technisch und formell zu erledigen in der Lage sind. Das sind meist unabhängige Müllsammel-Organisationen aus dem informellen Sektor (vorwiegend aus dem globalen Süden), die häufig nur für diese Entsorgungsarbeiten freie Abfallsammler/innen einstellen. In diesem Zusammenhang müssen die Projektentwickler – dem Projekt angemessen – sicher sein, dass bei der Entsorgung der Abfälle bestimmte Abläufe und Standards vorgegeben, eingehalten, dokumentiert und überprüfbar gemacht werden, was ins Aufgabenfeld der sogenannten Standardisierer fällt.

Kriterien und Standards
Die Funktion der Standardisierer besteht darin, unabhängige Standards oder Richtlinien zu finden und später an Ort und Stelle zu überprüfen und zu dokumentieren, die als Qualitätsvorgaben für die lokalen Sammelorganisationen und als Qualitätsgarantie für die späteren Käufer der Plastic Credits dienen. Anders gesagt schaffen Standardisierer die notwendigen Kriterien und Rahmenbedingungen, damit Müllentsorger und an Kompensation interessierte Unternehmen sich einig werden und über eine gemeinsame Grundlage verfügen. ZPO beispielsweise legt den Radius, innerhalb dessen gesammelt werden soll, durch die Kategorien Meerpotenzial, Wasserstraße, Küstenlinie und Fischfang-Material fest. Die Aachener Umweltschutzorganisation Everwave arbeitet mit River Ocean Cleanup zusammen. Als die am Markt am besten etablierten Akteure auf dem Gebiet der Standardisierung gelten Verra mit seinem Plastic Waste Reduction Program, Zero Plastic Ocean (ZPO) aus Frankreich und das brasilianische BVRio-Netzwerk. Für alle Standardisierer dürfte es jedoch ein generelles Problem geben: Der Brückenschlag zwischen der äußerst formalen Dokumentationspflicht für Plastic Credits auf der einen und dem informellen Charakter der Abfallsammlung auf der anderen Seite.

Ein Multiversum
Soweit bekannt, existieren zurzeit sieben – freiwillige – Standards, die Verra, Circular Action Hub, Plastic Exchange und Zero Plastic Ocean selbst entwickelt haben. Als hilfreich erweisen sich auch diverse Guidelines oder Best Practice-Codes. Auch wenn solche Standards keine rechtliche Verbindlichkeit haben, sollen sie die Glaubhaftigkeit des Unternehmens sicherstellen. Zusätzlich werden als externe Verifizierungs- beziehungsweise Validierungsstellen sogenannte Zertifizierer einbezogen, die die Einhaltung der Standard-Vorgaben überprüfen. Doch wie der Polyproblemreport*) der Röchling Stiftung und Wider Sense aufdeckt, fehlt es an akkreditierten Zertifizierungsprogrammen und auf diese Vorgaben sich stützenden, global einheitlichen Richtlinien; vielmehr herrsche ein „Multiversum an Zertifizierungen“.

Dementsprechend vielfältig präsentieren sich denn auch die Plastic Credits, die die Standardisierer nach der Zertifizierung als verifiziert ausgeben. Verra nennt sie Waste Collection Credits oder Waste Recycling Credits, das philippinische NGO Plastic Credit Exchange (PCX) unterscheidet zwischen Collection Credits, Landfill Diversion Credits und Recycling Credits, während Zero Plastic Oceans nur eigene Credits vergibt.

Ein unübersichtlicher Markt
Sobald die jeweiligen Projekte auf Einhaltung von Standards überprüft und zertifiziert wurden und Sammlung sowie Recycling angelaufen sind, werden Plastic Credits generiert, mit denen die Projektanbieter an den Markt gehen und sich refinanzieren können. Hier kommen die „Makler“ ins Spiel – Plattformen, Marktplätze oder Organisationen, die die Vermittlung zwischen Projektanbietern und an Kauf von Credits interessierten Kunden übernehmen. Die Makler unterstützen jedenfalls Konzerne, Hersteller oder Marken bei der Suche nach Plastic Credits, um deren ökologischen Fußabdruck zu verbessern. Die Liste führen Circular Action Hub, Plastic Credit Exchange, rePurpose, CleanHub, Plastic Collective und das deutsche Empower an. Doch der Markt ist unübersichtlich: Der Polyproblemreport charakterisiert das als „fragmentierte Akteurslandschaft“.

Ausgleich – nicht Neutralisierung
Von außen betrachtet, ähnelt das Plastic Credit-System dem europäischen Emissionshandel: Hier wird an einer Stelle kompensiert, was an anderer Stelle verursacht wurde. Der Vergleich hinkt aber bereits deshalb, weil Emissionen weltweit verteilt sind und überall kompensiert werden können, Kunststoffabfälle jedoch an anderer Stelle „ausgeglichen“ werden müssen als dort, wo sie verursacht wurden, und folglich die Umweltschäden nicht an Ort und Stelle „neutralisiert“ werden können. Darüber hinaus verhindert die Schaffung von Plastic Credits im globalen Süden keineswegs die Entstehung neuer Abfälle im globalen Norden – von der Tatsache abgesehen, dass zur Erlangung von Plastic Credits nur Kunststoffabfälle behandelt oder vor Deponierung oder Verbrennung bewahrt werden. Vielmehr könnten Unternehmer durch vorübergehende Teilnahme am Plastic Credits-System verleitet werden, nur einen Bruchteil der wirklichen Kompensationskosten zu tragen oder sich langfristig der verpflichtenden erweiterten Produzentenverantwortung zu entziehen. Dabei könnte auch gegen den Grundsatz verstoßen werden, Investitionen in Kompensationsprojekte erst dann zu tätigen, wenn alle anderen Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung der ausschließlich unabdingbaren Abfälle ausgeschöpft sind – also keine weitere Option zur Entsorgung zur Verfügung steht.

Zusatznutzen für den informellen Sektor
Auch die Auswirkung des Plastic Credit-Systems auf die involvierten Sammler/innen und Sammelorganisationen dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Die eigentlichen Entsorgungsarbeiten erledigen hauptsächlich informelle, nicht offiziell gemeldete Arbeitskräfte, die meist nach Abfallgewicht, weniger nach Arbeitsstunden und vielfach ohne Rücksicht auf gesundheitliche Gefahren entlohnt werden. Zumindest ebenso schwerwiegend ist der Umstand, dass neben den recycelbaren Materialien auch nicht-recyclingfähige Reststoffe vorkommen, für die kein ökonomischer Wert und somit kein Anreiz für die Müllwerker besteht, sie zu sammeln und einer Behandlung zuzuführen. Für solche Fälle in Ländern mit unterfinanzierter Abfallbewirtschaftung stellen – nach Aussage der Multistakeholder-Initiative Prevent Waste Allianz – Standardisierer wie rePurpose Global oder NGOs wie Zero Plastic Oceans and BVRio das Potenzial von Plastic Credit-Systemen heraus, um Sammlung, Wiedergewinnung und Recycling von Abfällen zu steigern und währenddessen sozio-ökonomischen Zusatznutzen durch Verbesserung der Einkommensmöglichkeiten für die Abfallsammler/innen zu schaffen.

Zwischen EPR und plastikneutral
Wie dem auch sei: Ziel aller Aktivitäten sollte eine Kreislaufwirtschaft mit erweiterter Produzentenverantwortung sein. Darunter ist eine beständige Infrastruktur zu verstehen, deren transparente Gesamtstrategie durch Plastic Credits ergänzt wird, sofern das Prinzip der Zusätzlichkeit hierzulande und der Einsatz als Übergangsinstrument in Ländern, in denen noch keine EPR-Systeme installiert sind, gewährleistet sind. Noch besteht für Plastic Credits freilich die Gefahr, dass sie – wie es der WWF nennt – zum Greenwashing einladen. Denn bislang wird selten ersichtlich, unter welchen Kriterien und in welchem Umfang sie gekauft wurden: Was bedeuten Prädikate wie „plasticneutral“ oder „net zero emissions“? Wie seriös sind Angebote, die – wie beim Projektanbieter PCXmarkets nachzulesen – Preisspannen von 115 bis 635 US-Dollar pro Tonne Kunststoffmüll aufweisen? Und wie leistungsfähig sind die jeweiligen Anbieter: Wie der Polyproblemreport errechnet, wären allein für die Kompensation der Plastikmenge, die Coca-Cola jährlich produziert, rund 555 Projektpartner notwendig.

Es gibt zum Thema eine wissenschaftliche Untersuchung: Richter, Aileen (2023): Plastic Credits als Instrument zur Annäherung an eine Circular Economy – Einordnung der Nutzung des Marktmechanismus auf Abnehmerseite (Wuppertaler Studienarbeiten zur nachhaltigen Entwicklung Nr. 30), Wuppertal Institut, im Internet unter epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/8380/file/WSA30_Richter.pdf.

*) Problemreport „Kauf dich frei. Der schwere Weg zur Plastik-Neutralität“, hrsg. von Röchling Stiftung und Wider Sense, im Internet unter polyproblem.org/wp-content/uploads/Polyproblem-Kauf-dich-frei.pdf.

(Erschienen im EU-Recycling Magazin 10/2023, Seite 16, Foto: zatevakhin / stock.adobe.com)