Der Begriff „Industrie 4.0“ wurde erstmals auf der Hannover Messe 2011 publik. Es dauerte nicht lange, bis er in Mode kam und ebenso für die Modernisierung oder besser: Digitalisierung anderer Sektoren Verwendung fand. So entstand „Recycling 4.0“. Doch die Branche tut sich schwer, den Begriff mit Inhalten und Zielvorstellungen zu füllen.
Im April 2013 erfolgte die Gründung der Verbände-Plattform „Industrie 4.0“ durch die Industrieverbände Bitkom, VDMA und ZVEI. Und zur Hannover Messe 2015 startete das Bundeswirtschaftsministerium die neue Plattform „Industrie 4.0“, gemeinsam mit Bundesforschungsministerium, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Forschergruppen. Hinter dem Begriff verbirgt sich die Modernisierung der industriellen Produktion durch eine enge Verzahnung von Informationstechnik, Maschinenbau und Elektrotechnik. Dabei bestimmt Industrie 4.0 die gesamte Lebensphase von Produkten: vom Design über Entwicklung, Fertigung, Nutzung bis hin zu Wiederverwertung, Recycling und Entsorgung. „Internet der Dinge“, „digitale Transformation“, „cyber-physische Systeme“ oder „smart factory“ sind Stichworte, die damit im Zusammenhang stehen.
Die digitale Fabrik
Das Bundeswirtschaftsministerium beschreibt die „digitale Fabrik“ folgendermaßen: „Maschinen koordinieren selbstständig Fertigungsprozesse, Service-Roboter kooperieren in der Montage auf intelligente Weise mit Menschen, fahrerlose Transportfahrzeuge erledigen eigenständig Logistikaufträge.“ Zur gegenseitigen Vernetzung werden ehedem passive Bestandteile der Produktion – Werkzeuge, Maschinen oder Transportmittel – mit Sensoren und Aktoren ausgerüstet und über IT-Systeme zentral gesteuert. „In der intelligenten Fabrik arbeiten so beispielsweise Transportbehälter, die Informationen über die individuelle Kennung, die aktuelle Position und die gegenwärtigen Befüllung über Sensoren via Funkverbindung übermitteln – und so effizient in der Produktion oder Logistik eingesetzt werden können.“
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung drückt es folgendermaßen aus: „Die seit Jahren entwickelten digitalen Systeme der kaufmännischen Verwaltung, der Steuerung von Produktionsmaschinen und der Forschung und Entwicklung wachsen zusammen und gehen dank des Internets Verbindungen mit den Rechnern der Kunden und Lieferanten ein.“ Und laut der datenschutz nord GmbH entstehen „dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie beispielsweise Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen.“
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Für energetisch optimierte Stoffkreisläufe
„Industrie 4.0“ steht für die vierte industrielle Revolution aufgrund einer geschickten, durchgängigen Vernetzung herkömmlicher Technologien – in Nachfolge zur Mechanisierung durch Wasser- und Dampfkraft (erste Revolution), der Massenfertigung mithilfe von Fließbändern und elektrischer Energie (zweite Revolution) sowie dem Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung (dritte „digitale“ Revolution). Analog zur industriellen Revolution Nummer 4 definierten Jan Ehrig, Robert Wolf und Michael Stelter auf der Berliner Recycling- und Rohstoffkonferenz im März 2016 ein „Recycling 4.0“. Danach umfasste Recycling 1.0 Abfallreduzierung und stoffliche Nutzung von Produktionsrückständen, was Recycling 2.0 auf den Einsatz von Sekundärrohstoffen nach deren Nutzungsende erweiterte. Recycling 3.0 sah die möglichst materialspezifische Behandlung komplexer Stoffströme, während Recycling 4.0 mit der Schaffung „material- und branchenübergreifend energetisch optimierter Stoffkreisläufe“ mit hoher Wertschöpfung eine neue Qualität darstellt. Den Anreiz dafür liefern steigende Preise, Verfügbarkeiten und Nachfragen bestimmter Rohstoffe.
Gemeinsam aus unterschiedlichen Stoffströmen rückgewinnen
Das Ziel einer „intelligenten Kreislaufwirtschaft 4.0“ sollte nach Ansicht des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf sein, Produkte so zu gestalten, dass schon vor der Herstellung klar ist, wie sie später recycelt werden müssen. Davon sind Design und Herstellung von Produkten noch Jahre entfernt. Doch die Frage bleibt: Wie können Geräte und Materialen mit zunehmend komplexer Funktionalität und Zusammensetzung ressourceneffizient eingesetzt werden?
Darauf haben Jan Ehrig, Robert Wolf und Michael Stelter eine Antwort, die sie an zwei Beispielen erläutern. Zum einen beschrieben sie ein sogenanntes hybrides Verfahren aus zwei Stoffströmen, bei dem Lithium und gleichzeitig Kobalt, Nickel und Kupfer gemeinsam aus dem Primärrohstoff Zinnwalditkonzentrat und aus Lithium-Ionen-Akkumulatoren als Sekundärrohstoffen gewonnen werden. Zum anderen stellten sie ein Verfahren vor, durch das Blei und Indium aus Bleisilikatgläsern und indiumhaltigen sowie zinnhaltigem Schrott gewonnen werden können – mit dem Ziel, verschiedene Schrotte so zu behandeln, dass alle Produkte später weiter genutzt werden können. Die Beispiele der beiden Gewinnungsverfahren zeigen, dass es möglich ist, durch neue, intelligente Methoden verschiedene Wertstoffe aus unterschiedlichen Stoffströmen in einem gemeinsamen Prozess rückzugewinnen. In Prozessen, die, was den Einsatz von Equipment, Chemikalien und Energie anlangt, ressourceneffizienter und damit wirtschaftlicher sind.
Intelligente Datengewinnung und -auswertung
Auf derselben Konferenz machten Torben Kraffczyk und Christian Blackert deutlich, dass eine zeit- und kostenintensive Datenerhebung angesichts immer komplexer aufgebauter Sekundärmaterialien nur durch nachgeschaltete Analytik eine sinnvolle Investition darstellt. Die Autoren schlagen dafür im Bereich Schrottaufbereitung ein „intelligentes, anwendergerechtes Datamining“ beziehungsweise ein Customer Relationship Management (CRM) vor. Dabei erfasst eine Datenbank die technischen Parameter, steuert die einzelnen Teile der Anlage automatisch und bestimmt selbstständig die Notwendigkeit von Instandsetzungen und Wartungen. Statusabfragen für Controlling und Warnmeldungen erfolgen interaktiv und im laufenden Betrieb. Energieverbrauch, Betriebsmitteleinsätze, Betriebsstunden und Kilometerstände können schließlich gerätespezifisch abgefragt und innerbetrieblich ausgewertet werden.
In eine ähnliche Richtung geht auch das Konzept des „Materials Data Space“, das der Fraunhofer-Verbund Materials mit Blick auf „Industrie 4.0“ entwickelt hat. Das Konzept stellt digitalisiert alle relevanten Informationen zu Materialien und Werkstoffen in einer leistungsfähigen und unternehmens-übergreifenden digitalen Infrastruktur über den gesamten Lebensdauerzyklus zur Verfügung. Durch die Vernetzung werden laut Fraunhofer kürzere Entwicklungszeiten, lernende Fertigungsverfahren und neue Geschäftsmodelle möglich; zudem ergeben sich enorme Potenziale für Materialeffizienz, Produktionseffizienz und Recycling. Der Materials Data Space soll es möglich machen, „Werkstoffe als variable Systeme mit einstellbaren Eigenschaften zu begreifen und zu nutzen“.
Werkstoffe zum Sprechen bringen
Doch das Konzept geht noch einen Schritt weiter. Im Materials Data Space sollen Daten zu einem Werkstoff beziehungsweise Bauteil durchgängig über den gesamten Lebenszyklus zur Verfügung stehen, vom Materialentwickler über den Werkstoff-, Halbzeug- und Bauteilhersteller bis hin zum Endnutzer und zum strategischen Recycling. An jedem Schritt des Prozesses werden in Echtzeit die dynamischen Materialeigenschaften erfasst und in die Datenbank eingespeist. „Wir bringen die Werkstoffe zum Sprechen. Sie können uns zu jedem Zeitpunkt ihre Eigenschaften mitteilen. Diese Informationen stehen im Materials Data Space zur Verfügung und helfen beispielsweise, den Materialverbrauch zu senken, die Entwicklung neuer Werkstoffe zu beschleunigen, den Herstellungsprozess zu optimieren, Lebensdauer und Zuverlässigkeit zu steigern oder zu erkennen, bei welchen Produkten sich das Recycling lohnt“, prognostiziert Prof. Dr. Ralf B. Wehrspohn, der das Projekt koordiniert.
Zum Teil ist dieser Anspruch bereits in der Careformance Recyclinganlage der Erema GmbH realisiert, die damit eine Basis für weitere Smart Factory-Anwendungen bildet. Zusätzlich zu den bisherigen Maschinendaten können mit speziell integrierten Sensoren künftig der MVR-Wert (Schmelzvolumen-Rate), Farbe sowie Feuchte erfasst und ausgewertet werden. Dieses sogenannte Quality On-Package ermöglicht laut Erema Recyclern und Produzenten, ihre Rezyklate gemäß den speziellen Anforderungen ihrer Kunden in stabiler Qualität zu erzeugen und diese transparent, mittels Online-Datenerfassung und -Analyse nachzuweisen. Elektronisch erfasste Rezepte sind auf Mausklick miteinander vergleichbar und veränderbar. Zusätzlich bietet Erema ein Produktionsleitsystem namens Re360 an, laut Hersteller „ein Standard-MES für Recyclinglösungen“. Das System soll einen Überblick über Auslastungs- und Stillstandzeiten der Anlagen liefern, Qualitätskennwerte der Rezyklate dokumentieren und auf anstehende Wartungsarbeiten hinweisen.
Anfallende Prozesse vereinfachen
Unter „Abfallwirtschaft 4.0“ versteht der Software-Entwickler Fritz & Macziol etwas anderes. Seine IT-Komplettlösung vernetzt bestehende Software-Lösungen durch eine übergeordnete Datenplattform. Sie umfasst Meldungen zu Abfallverbringungen über das „eANV Portal“ und die Zentrale Koordinierungsstelle der Länder, Datenflüsse aus Logistik und Telematik, Waagenprotokolle, Containermanagement, Aufstellungen von Warenein- und -verkäufen, Erstellung von Rechnungen, Ablage von Verträgen und Aufträgen und verschiedenste andere Datenerfassungen. „Durch das neue Konzept helfen wir, die täglich anfallenden Prozesse der Abfallwirtschaft zu vereinfachen und einen unmittelbaren Nutzen für Entsorgungsunternehmen zu generieren“, fasst Alexander Marschall, Leiter Business Development Abfallwirtschaft bei Fritz & Macziol, zusammen. Doch auch eine breit angelegte Digitalisierung „des gesamten Entsorgungsprozesses vom Auftragseingang bis zur Abrechnung“ deckt die – für Recycling 4.0 erforderliche – Erfassung material- und branchenübergreifender Stoffkreisläufe (zumal im industriellen Maßstab) nicht ausreichend ab.
Anstelle von Insellösungen zur Diagnose, Optimierung und Konfiguration von automatisierten Produktionsprozessen bedarf es innovativer Software-Ansätze, um die produktionsrelevanten Daten zu sammeln, zu koordinieren und systematisch aufzubereiten. Die Goslarer pdv-software GmbH scheint ein System anzubieten, das Steuerungs-, Qualitäts-, Labor-, Energie- und Bestandsdaten gemeinsam mit zusätzlichen Parametern betrachtet und abbildet. pdv-software-Geschäftsführer Tristan Niewisch erläutert die Vorteile des „prins 4.0“ genannten Ansatzes: „Unser Projekt wird einen durchgängigen, transparenten Zugriff auf produktionsbegleitende Daten möglich machen. Auf Basis systematisch aufbereiteter Informationen zu den betrieblichen Prozessen lassen sich die vorhandenen Einsparpotenziale in den Bereichen Material und Energie tatsächlich erkennen und auch realisieren.“
Versuch einer Bilanz
Versucht man, den Stand eines „Recycling 4.0“ zu bilanzieren, fällt sofort die Sprachverwirrung und Definitionsnot in der Branche darüber auf, was mit 4.0 gemeint und beabsichtigt ist. Zudem sind die Voraussetzungen für saubere Stoffstrom-Analysen und -Diagnosen nicht gegeben, da von den meisten der zum Recycling anstehenden Materialien weder Herkunft noch Zusammensetzung bekannt sind. Und für Software, die die Analyse verschiedene Stoffströme vorzunehmen oder gar deren Recyclingprozesse zu koordinieren vermag, besteht – vorsichtig geschätzt – bislang nur ein kleiner Markt.
Dennoch wird sich die Branche aus Qualitäts-, Kosten- und Versorgungsgründen in Richtung „Recycling 4.0“ bewegen müssen. Und sie tut es bereits – in kleinen Schritten, ohne dafür den Namen zu verwenden. So forderte auf dem letzten Internationalen Altpapiertag am 21. April 2016 in Düsseldorf der Einkaufs-Direktor der spanischen Papierfabrik Saica, Guillermo Valles: „Aufbereitungstechnologien stehen mit neuen Qualitätsanforderungen auf dem Innovationsprüfstand. Mit dem Einsatz von High-Tech-Messeinrichtungen zur automatisierten Altpapier-Eingangskontrolle reagieren wir auf die gestiegenen Qualitätsanforderungen unserer Abnehmer, der Markenhersteller und Konsumenten.” Und er fügte hinzu: „Für Parameter, auf die die Zulieferer Einfluss nehmen könnten – beispielsweise Störstoffanteile, Ballenzustand, Feuchtigkeits- und sogar Aschegehalt –, müssten diese in Zukunft deutlich höhere Anstrengungen im Sinne der Qualitätssicherung unternehmen.“
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