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Brexit – und dann?

Das Votum des Vereinigten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, wirft die Frage auf, wie die Nation die zukünftige Abfallwirtschaftspolitik gestaltet – zum ersten Mal unter vollständig eigener politischer Kontrolle. Britanniens Abfallwirtschaft macht sich Gedanken.

„Wir werden trotzdem mit der EU zusammenarbeiten“, postulierte vor einigen Wochen Andrew Sells, der Vorsitzende von Natural England. Was für Natural England, die die Regierung von England bei Angelegenheiten der natürlichen Umwelt berät, gilt, kann die britische Abfallwirtschaft nicht unterschreiben. Ihr ist mittlerweile klar geworden, dass ein ‚harter‘ Brexit bevorsteht, dass das Vereinigte Königreich den Binnenmarkt verlassen wird und dass daraus unabsehbare Folgen resultieren. Jetzt wurden zwei Papiere veröffentlicht, die ernsthafte Aussagen über die neue Rolle der britischen Abfallwirtschaft wagen. Nach Ansicht der Environmental Industries Commission (EIC) haben EU-Gesetzgebung und -Abfallpolitik im Vereinigten Königreich zu einer Entpolitisierung, der Verminderung von Deponierungen, einer Steigerung der Recyclingquote von 10 auf 40 Prozent, einem Wiedererstarken von Abfall-zu-Energie und dem Entstehen eines Kreislaufwirtschaftskonzepts inklusive Öko-Design und Abfallvermeidung geführt. Allerdings sei die Umsetzung der EU-Richtlinien in eine britische Abfallrechtsprechung nicht immer geradlinig und unkompliziert verlaufen. Das soll insbesondere der problematischen Abfalldefinition, der Bestimmung der Abfallziele nach Gewicht und Unsicherheiten über die praktische Umsetzung der Getrenntsammlung geschuldet sein.

Fortführen oder modifizieren

Dennoch haben etliche Gesetze entscheidenden Einfluss auf die britische Abfallwirtschaftspolitik ausgeübt, sodass über ihre Fortführung oder Modifizierung nachgedacht werden muss:

■    Die 2010/2011 in britische Rechtsprechung übernommene Waste Framework Directive müsste mit neuen Zielvorgaben versehen werden, um diejenigen von 2020 zu ersetzen. Die Bestimmungen der Getrenntsammlung sollten aufgegeben werden, um Mischabfälle unter Ausschluss von Glas zu erlauben.
■    Die Landfill Directive könnte beibehalten werden, sollte aber neue Zielvorgaben enthalten.
■    Der Basel Convention – als internationaler Übereinkunft – sollte das Vereinigte Königreich weiterhin angehören; die erneute Unterzeichnung des Vertrages könnte juristischen Aufwand erfordern.
■    Die WEEE Directive sollte ebenso wie die Packaging and Packaging Waste Directive und die Controls on Animal By-Products Regulation beibehalten werden.
■    Ebenso sollte die Industrial Emissions Directive beibehalten werden, unter Einsatz neuer „Best Available Techniques Reference“.

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Empfehlungen an das Parlament

Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat beschlossen, dass mit Beginn des Brexit alle EU-Gesetzgebung, die noch nicht in britisches Recht umgesetzt wurde, in britische Vorschriften überführt wird. Ab diesem Zeitpunkt bleibt die EU-Gesetzgebung in Kraft, bis Britannien ein Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums wird oder ein Arrangement mit der EU über spezifische Verbindlichkeiten eingeht. Würde das UK-Parlament danach frei über Abfallwirtschaft und -gesetzgebung entscheiden können, sollte es den folgenden Empfehlungen der Environmental Industries Commission entsprechen:

■    einer Beratung über neue Recyclingziele bis 2025, die die Möglichkeiten eröffnen, nuancenreichere Mengenangaben mit höheren Umweltzielen als nur CO2-Folge­escheinungen anzupeilen
■    der Beibehaltung der EU-Definition von Abfällen, um das Entstehen von Begriffsverwirrungen und juristische Unsicherheiten zu vermeiden
■    einer Überprüfung der Vorschriften zur Getrenntsammlung, um die Mehrdeutigkeit der jetzigen Sprachregelung durch einen pragmatischen Ansatz mit klarer Handlungsanweisung für hochwertige Rezyklate zu ersetzen
■    der Verwendung der „Besten Gesamt-Umwelt-Option“ (Best Overall Environmental Option; BOEO) unter Beibehaltung der fünfstufigen EU-Abfallhierarchie, die aber auch Ausnahmefälle wie die Deponierung von speziellen Sonderabfällen zulässt
■    der Bevorzugung von Kreislaufwirtschafts-Konzepten bei Ressourcen-Strategien, die mit neuen staatlichen Industrie-Strategien verknüpft sind
■    der Übernahme von Öko-Design-Regularien aus dem zukünftigen EU-Kreislaufwirtschaftspaket
■    und schließlich der Förderung einer regulatorischen Gemeinsamkeit innerhalb des Vereinigten Königreichs, da Ziele und politische Initiativen divergieren können.
Über diese Forderungen hinaus sollte die gesamte EU-Abfallgesetzgebung beibehalten werden.

Mangelnde Klarheit

Auch die britische Denkfabrik Policy Exchange verkennt den Einfluss der EU-Gesetzgebung auf die Abfallwirtschaft des Vereinigten Königreichs nicht. Doch unterstellt ihre neue Studie zu „Developing a new approach to waste policy following Brexit“ der EU-Abfallpolitik mangelnde Klarheit: Zum Durcheinander in den Grundsätzen würden sich schlecht bemessene Recyclingziele gesellen, die außerdem britischen Unternehmen und britischen Haushalten zusätzliche Kosten aufbürden. Darüber hinaus kritisiert die Studie, dass Abfallrahmenrichtlinie und Kreislaufwirtschaftspaket nur die Behandlungsmethoden beschreiben, nicht aber die Ergebnisse für die Umwelt. Dass es zwischen den Nationen Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, wie Abfallströme definiert und gemessen werden. Dass die offiziellen Recyclingquoten die tatsächlichen Recyclingmengen vermutlich überbewerten, da sie die Materialverunreinigungen verschleiern. Und dass der europäische Blick auf immer höhere Recyclingniveaus gerichtet ist, es aber versäumt wurde, sich über die ökonomischen Grundlagen Gedanken zu machen.

Daraus ziehen die Policy Exchange-Autoren den Schluss, dass das Vereinigte Königreich nach dem Brexit einen eigenen Ansatz zu Abfall- und Ressourcenpolitik – mit deutlich klareren Zielvorgaben – finden sollte, der besser zu ihrem Land passt. Für die Wirtschaft gebe es eine ansehnliche Möglichkeit, ihre Ressourcenproduktivität zu erweitern: Dieses Potenzial finde bereits im Grünbuch der Regierung zur Industrie-Strategie Erwähnung, müsse aber im Hinblick auf drei Vorgaben noch überarbeitet werden: durch Maximierung der Ressourcenproduktivität, die die Kosten für die Industrie erkennbar senkt; durch Minimierung von Umwelteinflüssen im Sinne des Climate Change Act, des Emission Reduction Plan und des zukünftigen Defra 25-Jahres-Plans für die Umwelt; und durch Reduzierung der gesellschaftlichen Lasten aufgrund von Kostensenkung in der kommunalen Abfallwirtschaft.

Für Re-Use und mehr Recyclingstandards

Für den Bereich Reduzierung und Wiederverwendung schlägt die Studie weniger staatliche Hemmnisse und mehr Ermutigung zum Re-Use von Gütern und Materialien vor. Regt die Entwicklung von Produktstandards wie beispielsweise der Öko-Design-Richtlinie an, um Haltbarkeit, Reparaturfähigkeit und Recycelbarkeit zu erhöhen. Und animiert unter anderem Regierung und Industrie zur Steigerung von Ressourcenproduktivität und Abfallreduzierung. Im Bereich Energie-Rückgewinnung wird die Förderung von Abfall-zu-Energie- bis hin zu Hocheffizienz-Technologien für „Grünes Gas“ oder Blockheizkraftwerke zur Wärme- und Energie-Kombination vorgeschlagen, Klarheit bezüglich des Renewable Heat Incentive-Konzepts nach 2020/21 verlangt, und unter anderem an eine treffendere Definition von Ersatzbrennstoffen gedacht, um Betreiber zu zwingen, alles wirtschaftlich verwertbare Material herauszuholen, bevor es zur Energiegewinnung ins Ausland exportiert wird.

Im Recyclingsektor sollten die Ortsverwaltungen bis 2025 eines der drei standardisierten Sammelsysteme eingeführt haben und damit die mehr als 400 in England betriebenen Systeme vereinfachen. Durch aktives Marketing und Denkanstöße könnte das öffentliche Recycling-Bewusstsein gehoben werden. Verbesserungen seien auch durch gemeinsame Standards zur Kennzeichnung von Verpackungen und über ein System von Verwertungsnachweisen für Verpackungen zu erreichen. Die Unterstützung einer Marktentwicklung für Sekundärrohstoffe könnte das bis 2013 höchst erfolgreiche „National Industrial Symbiosis Programme“ fortsetzen. Und Innovationen in Recycling und Wiederverwertung von Materialien und Gütern sollten zur Wiederherstellung und Rationalisierung von Prozessen führen, um den Abfallende-Status für Produkte zu erreichen, die aus Abfall gefertigt wurden.

In der Praxis beweisen

Beide Untersuchungen haben ihre Berechtigung: das Papier der Environmental Industries Commission, das auf einige britische Spezifika aufmerksam macht, die Regelungen der EU-Kreislaufpolitik aber für weitgehend beibehaltenswert einstuft. Und der Ansatz des eher EU-kritischen Think Tanks, der mehr eine Wunschliste denn eine belastbare Wirtschaftsanalyse vorstellt. Etliche dieser Vorschläge klingen überzeugend, müssen sich in der Praxis jedoch als ökonomisch realisierbar erweisen und sind aus der Geschichte der letzten 20 Jahre zum Teil bekannt. Doch worüber sich keine der Studien Gedanken gemacht hat und machen konnte: Der Statuswandel des Vereinigten Königreichs vom EU-Mitgliedstaat zum Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums wird tiefgreifende wirtschaftliche, juristische und soziale Veränderungen für Britannien nach sich ziehen, die nicht zuletzt die Abfallwirtschaft grundlegend ändern werden. Inwieweit die in den beiden Untersuchungen skizzierten Modifizierungen dann noch zum Tragen kommen, bleibt abzuwarten.

„Going Round in Circles: Developing a new approach to waste policy following Brexit“ https://policyexchange.org.uk/wp-content/uploads/2017/02/Going-Round-in-Circles-FULL-REPORT.pdf [2]

Foto: pixabay

(EUR0417S6)