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Wasserstoff: Alternativer Energieträger oder nur heiße Luft?

„Wasserstoff wird in industriellen Prozessen und bei der Mobilität der Zukunft eine große Rolle spielen.“ Vor allem könne er dazu beitragen, den CO2-Ausstoß des Schwerlastverkehrs und der Industrie signifikant zu verringern, erklärte Ende Juni Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee. Damit brachte er auf den Punkt, was die am 10. Juni vorgestellte Nationale Wasserstoffstrategie beabsichtigt: den Einsatz von Wasserstoff zur Weiterentwicklung und Vollendung der Energiewende und damit verbesserte Randbedingungen für die Wirtschaft.

Davon ist unter anderem auch die zukünftige Mobilität der Abfallwirtschaft betroffen. Allerdings wurde die Branche schon aus mehr oder weniger eigenem Antrieb auf den Energieträger Wasserstoff aufmerksam. Bereits 2010 ließ die Berliner Stadtreinigung ein Brennstoffzellen-Hybrid-Entsorgungsfahrzeug entwickeln, um dessen Vorteile zu nutzen: deutlich reduzierte Lärm- und Abgasemissionen, geringeres Gewicht sowie mögliche neue Fahrzeugkonzepte mit einer wirtschaftlich interessanten Wasserstoff-Infrastruktur. Im September 2017 wurde in Oxford der erste privatwirtschaftlich betriebene Müllwagen mit Wasserstoffantrieb in Betrieb genommen; öffentliche Unternehmen in Großbritannien hatten schon seit einiger Zeit mit dieser Antriebsform experimentiert.

Hector und Revive
Ein im Januar 2019 genehmigtes Pilot-Projekt namens Hector mit einer Laufzeit von vier Jahren soll zeigen, dass Brennstoffzellen-Fahrzeuge eine effektive Lösung zur Reduzierung der Emissionen des Straßenverkehrs darstellen können. Dazu werden sieben Wasserstoff-Entsorgungsfahrzeuge in Nord-West-Europa eingesetzt: in Aberdeen (Schottland), Groningen (Niederlande), Arnheim (Niederlande), Duisburg (Deutschland), Herten (Deutschland), Touraine Vallee de l’Indre (Frankreich) und Brüssel (Belgien). Bis 2021 soll im Rahmen des EU-Förderprojekts Revive (Refuse Vehicle Innovation and Validation in Europe) eine Flotte von 15 elektrischen Müllsammelfahrzeugen gebaut und in Breda, Helmond, Amsterdam, Groningen, Roosendaal, Antwerpen sowie Bozen und Meran erprobt werden.

Seit Mitte Juni 2020 liefert die Wuppertaler Abfallwirtschaftsgesellschaft AWG ihren aus Haus- und Gewerbeabfällen produzierten Strom an die Wuppertaler Stadtwerke, um deren mit Wasserstoff betriebene Busflotte zu versorgen. Seit Anfang August 2020 testet die Abfalllogistik Bremen GmbH (ALB) erstmalig ein wasserstoffbetriebenes Entsorgungsfahrzeug im Realbetrieb. Zu diesem Zeitpunkt gab Lkw-Entwickler Faun die Serienproduktion wasserstoffbetriebener Nutzfahrzeuge wie Müllfahrzeuge und Kehrmaschinen bekannt. Medienberichten zufolge liegen bei Faun für die Bluepower genannten Fahrzeuge 20 Bestellungen für das Jahr 2020 vor. Für 2021 seien es bereits 100.

Andere Antriebstechniken konkurrieren
Ob dieser Boom bei den Müllfahrzeugen mit Wasserstoff-Technologie anhält, lässt sich kaum vorhersagen. Eine Studie von Fraunhofer ISI, Fraunhofer IML und PTV Transport Consult für das Verkehrsministeriums im Jahr 2017 kommt zu folgendem Ergebnis: Brennstoffzellenfahrzeuge werden im alternativen Fahrzeugbestand 2030 nur 20.000 Fahrzeuge (zwei Prozent der alternativen Antriebe) umfassen und mit 0,2 Terrawattstunden (fünf Prozent) zur gesamten EEV-Einsparung sowie mit 0,2 Millionen Tonnen CO2 nur zu drei Prozent zur gesamten Emissionsminderung beitragen. Jedoch hängt die Entwicklung neben betriebswirtschaftlichen Faktoren auch von der Emissionsbewertung der Kraftstoffe sowie den resultierenden Steuern und der Preisentwicklung im Wasserstoffmarkt sowie der Konkurrenz anderer Antriebstechnologien ab. Ohnehin stehen mit komprimiertem Erdgas oder Flüssigerdgas betriebene Lkw hinsichtlich Anschaffungs- und Betriebskosten in direktem Wettbewerb mit den Brennstoffzellen-betriebenen.

Industrielle Bedeutung steigend
Auch in der Industrie verspricht der Einsatz von Wasserstoff als Energieträger eine mögliche Reduktion des CO2-Ausstoßes. Gerade in energieintensiven Branchen wie der Glas- und Keramikherstellung, der Papier- und Pappeherstellung, Chemie und Baustoffindustrie gewinnt Wasserstoff als Energieträger zunehmend an Bedeutung. Das betrifft neben der Metallerzeugung und -bearbeitung auch die Schrottverarbeitung.

So betreibt beispielsweise die ArcelorMittal Hamburg GmbH nach eigener Darstellung als einziges Stahlwerk in Westeuropa eine Direktreduktionsanlage, die Eisenerzpellets mit einem Reduktionsgas statt mit Koks in metallisches Eisen umwandelt. Das Reduktionsgas besteht bereits heute zu rund 60 Prozent aus Wasserstoff. Eine Studie, die die Herstellung von Eisenschwamm unter Verwendung von Wasserstoff in einer konventionellen Direktreduktionsanlage bewerten sollte, kam zum Schluss, dass es technologisch keine Hemmnisse gibt, einen Prozess mit ausschließlich Wasserstoff umzusetzen. Sowohl der Reduktionsprozess als auch die Verwendung von Elektrolyseuren seien technisch gut beherrschbar und erprobt.
Allerdings ergab eine Kostenabschätzung, „dass es unter den aktuellen Rahmenbedingungen keine Anreize gibt, in eine entsprechende Technik zu investieren“, da insbesondere die enormen Kosten für den Betrieb einer Power-to-Gas-Anlage beziehungsweise einer H2BI-Anlage (Hydrogen Hot Briquetted Iron) dieses Konzept unwirtschaftlich machen. Außerdem müsste der Strom grundlastfähig zur Verfügung stehen und realisiere zusätzliche Kosten. Prinzipiell wäre – würde Wasserstoff mittels Elektrolyse produziert, bei der ausschließlich erneuerbarer Strom zur Verwendung kommt – eine Prozessroute denkbar, die nahezu CO2-frei wäre, meldete das Unternehmen im August 2017.

Das Ziel in weiter Ferne
Ähnlich argumentiert auch die Bundesvereinigung Deutscher Stahlrecycling- und Entsorgungsunternehmen (BDSV). Technologien zur Vermeidung von CO2 durch Reduktion von Eisenerz mit regenerativ erzeugtem Wasserstoff statt mit Kohle seien vorhanden. Würde jedoch in allen deutschen Stahlwerken die Kohle komplett durch Wasserstoff als Reduktionsmittel ersetzt, seien dafür jedes Jahr rund 120 Terawattstunden regenerativ erzeugte elektrische Energie erforderlich – fast ein Viertel des gesamten deutschen Strombedarfs. „Angesichts des deutschen Strommix‘, bei dem erneuerbare Energien derzeit nur etwa ein Drittel der Gesamtproduktion ausmachen, scheint das Ziel in weiter Ferne.“

Eine „Stahlillusion“
Im März 2018 gab der Salzgitter-Konzern seine Aktivitäten zur direkten Vermeidung von CO2-Emissionen bei der Stahlherstellung unter dem Projekttitel Salzgitter Low CO2-Steelmaking (Salcos) bekannt. Ziel von Salcos, für das im April 2019 der Anlagenhersteller Tenova ins Boot geholt wurde, ist ein schrittweiser Transformationsprozess der kohlenstoffintensiven, konventionellen Stahlherstellung hin zur Direktreduktion mit einem flexiblen, zunehmenden Einsatz von Wasserstoff.

Im Ergebnis sollen die CO2-Emissionen über die gesamte Prozesskette um bis zu 95 Prozent gesenkt werden können. Unternehmensberater Dr.-Ing Hans-Bernd Pillkahn hält dieses Projekt für unrealisierbar. Auf der BDSV-Jahrestagung im November 2019 rechnete er vor, dass ein Energiebedarf besteht, der nur durch 3.000 onshore-Windkraftanlagen der 3-MW-Klasse gedeckt werden kann, die Umspannung auf Gleichstrom alleine fünf Gasturbinen-Grundlastkraftwerke der 500-MW-Klasse im Dauerbetrieb erfordert, die Elek­trolyse zehn 100-MW-Wasserstoffanlagen benötigt, für den 2,5 Direktreduktionsanlagen vom Typ Porto Cristo mit einem Preis pro Anlage in Höhe von 1,1 Milliarden US-Dollar unabdingbar sind und für den drei Elektrolichtbogenöfen á 250 Tonnen Leistung gebraucht werden – vieles davon sei nicht vorhanden. Zudem würden sich die Kosten auf sechs bis 18 Milliarden Euro belaufen und ein Abschreibungsvolumen von jährlich 600 bis 800 Millionen Euro generieren, das die Salzgitter-Bilanz „zerreißen“ würde. Deswegen sei die Umstellung auf eine Wasserstoff-basierte Stahlerzeugung über die Direktreduktion- beziehungsweise Elektrolichtbogenöfen-Route eine „Stahlillusion“.

Auf Unterstützung angewiesen
Eine Studie der Roland Berger GmbH zur Entwicklung der Stahlindustrie geht davon aus, dass die Wasserstoff-basierte Direktreduktion von Eisen im Hochofen oder im Wirbelschichtverfahren die vorherrschende zukünftige Technologie zu Kohlenstoff-neutralen Stahlherstellung sein wird. Freilich müsse – über den Daumen gepeilt – für jede Million Tonnen Kapazität zur Herstellung von Eisenschwamm in einem Wasserstoff-betriebenen Elektrolichtbogenofen rund eine Milliarde Euro an Investitionskapital aufgebracht werden. Die daraus resultierende Summe könnten nur die europäischen Regierungen durch Steuererleichterungen, Gebühren, Fördergelder oder ähnliche Finanzierungen realisieren. Um die Emissionsziele der EU zu erreichen, seien die Stahlhersteller auf Unterstützung angewiesen.

„Ohne den politischen Willen und entsprechende Unterstützung ist die notwendige Technologietransformation nicht zu erreichen“, fasste Akio Ito, Senior Partner der Roland Berger GmbH, die Studie zusammen. Dem stimmt auch Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, zu. Seiner Ansicht nach müssten für den Hochlauf einer Wasserstoffwirtschaft die richtigen Anreize gegeben und schnell und umfassend umgesetzt werden.

Dies sei zu erreichen, indem klimaneutral und technologieoffen erzeugter Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen (und in ausreichenden Mengen) zur Verfügung steht. „Die Kosten für den Einsatz von Wasserstoff für industrielle Zwecke sollten daher in der Aufbauphase durch staatliches Engagement auf ein wettbewerbsfähiges Niveau gesenkt werden.“ Das in der Strategie angekündigte Pilotprogramm für Differenzverträge (Carbon Contracts for Difference) in der Stahl- und Chemiebranche sei als wichtiges Instrument für die Transformation zu begrüßen. Wirksam würden die Maßnahmen aber nur, wenn sie nicht nur einen Teil, sondern die gesamten Mehrkosten der Klimaschutz-Investitionen absichern.

Wasserstoff-Infrastruktur notwendig
Ob die Nationale Wasserstoffstrategie – wie Hans Jürgen Kerkhoff einräumt – das Fundament für den Hochlauf einer deutschen Wasserstoffwirtschaft bilden kann, muss die wirtschaftspolitische Praxis zeigen. Für den Verband kommunaler Unternehmen fehlen jedenfalls der Nationalen Wasserstoffstrategie konkrete, kurzfristig umsetzbare Maßnahmen, besonders hinsichtlich des Aufbaus von Infrastrukturen in öffentlichen Versorgungsnetzen. Außerdem konzentrierten sich die Aktivitäten nur auf die indus­trielle Produktion und den Import, lasse aber die Potenziale dezentraler Wasserstofferzeugung außer Acht. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft hält eine Wasserstoff-Infrastruktur für die öffentliche Versorgung analog zur Gasnetz-Infrastruktur für notwendig, um einen diskriminierungsfreien Zugang zum Energieträger Wasserstoff zu ermöglichen. Denn „die Umsetzung der EU-Klimaziele gelingt nur, indem in allen Sektoren alle zur Verfügung stehenden Dekarbonisierungsoptionen genutzt werden können“.

Die Deutsche Umwelthilfe hat an der Umsetzung der Strategie ihre Zweifel: Wasserstoff sei kein Allheilmittel für die Energiewende, die Hintertür für blauen Wasserstoff aus fossilem Erdgas müsse geschlossen werden, Wasserstoff sei zu teuer und ineffizient für Pkw und Heizung, und schließlich müsse der Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen mit grüner Wasserstoffnutzung Schritt halten. Deshalb kommt es nach Ansicht von Constantin Zerger, Leiter Energie und Klimaschutz der DUH, auf „die konkrete Umsetzung der Wasserstoffstrategie und die Abarbeitung der vielen Prüfaufträge an“. Und für den Wirtschaftsrat der CDU ist es Aufgabe der Strategie, den richtigen Rahmen für Wasserstoff zu liefern, der zur Erreichung der Klimaschutzziele bei gleichzeitigem Erhalt der industriellen Wertschöpfung Europas einen bedeutsamen Beitrag leisten könne. „Der Fokus von Bund und EU sollte deshalb nicht auf Ordnungsrecht und Detailvorgaben für einzelne Sektoren liegen, sondern auf einem grenzüberschreitenden, marktwirtschaftlichen Rahmen für den Aufbau einer integrierten Wasserstoffwirtschaft“, ist Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates, überzeugt.

Ernstgemeinte Anstrengungen?
Eines dürfte deutlich sein: Ohne eine ernstgemeinte Dekarbonisierungsstrategie und eine ambitionierte und progressive Klimapolitik, die alle Anstrengungen unternimmt, um preiswerten Ökostrom flächendecked zu produzieren und sinnvoll einzusetzen, werden alle Zukunftsträume einer Wasserstoff-basierten Wirtschaft schnell zerplatzen. Ob Deutschland die Anstrengungen dazu mehr oder weniger selbst auf sich nehmen will und kann, sei dahingestellt. Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung, ist sich jedenfalls sicher: „Der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft kann nur als ein europäisches Projekt gelingen.“

(EU-Recycling 09/2020, Seite 8, Foto: FAUN)

 

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