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SCIP-Datenbank: Trübe Aussichten auf Erfolg

Ab dem 5. Januar 2021 müssen Unternehmen aller Branchen, deren Produkte besonders besorgniserregende Stoffe (SVHC = substances of very high concern) mit einer Konzentration über 0,1 Masseprozent enthalten, diese an die SCIP-Datenbank melden. Das Ziel: Informationen über „Substances of Concern in Articles“ zu erhalten. Ob sich der Aufwand für alle Beteiligten lohnt, wird jedoch vielfach bezweifelt.

Schon auf einem Workshop am 22. und 23. Oktober 2019 in Helsinki machten sich Vertreter der Bau-, Automobil-, Elektro- und Papierindustrien Gedanken darüber, inwieweit eine Datenbank für ihren Bereich nützlich sein kann. Sie gaben zu bedenken, dass in den letzten Stadien ihrer Produkte Material-Kontaminationen oder -Konzentrationen vorkommen, die es schwer machen, die einzelnen Materialien zu separieren und zu identifizieren. Die Abfallentsorger hatten mehr Bedenken hinsichtlich des Materialzustands am Ende ihrer Lebenszeit: Wie könne man zerbrochene oder zerstückelte Artikel erkennen?

Aus Sicht der Anlagenbetreiber
Auch auf dem zweiten SCIP-Workshop im November 2019 kam das Thema zur Sprache. Claudia Mensi, Technische Leiterin bei der FEAD, beleuchtete – aus der Sicht der Anlagenbetreiber – den Nutzen der Datenbank und die besten Möglichkeiten, ihre Daten zugänglich zu machen. Heutzutage würden in Abfallbehandlungs- und Recyclinganlagen sowohl wissenschaftliche wie im täglichen Geschäft erworbene praktische Kenntnisse benutzt, um Fraktionen zu entfernen, die gefährliche oder Alt-Substanzen enthalten. Darunter fielen ausgewiesene Kunststoffströme mit Phtalaten, die aufgrund früherer Analysen von den recycelbaren Materialien getrennt werden. Oder bestimmte Automarken bei der Altautoverwertung, von denen man wisse, dass sie mehr persistente organische Schadstoffe (POP) als andere enthalten und vor Ausschlachtung und Shreddern separiert werden können.

Zentral: Nutzbarkeit der Informationen
Im Moment – so Claudia Mensi – benötige die Abfallwirtschaft mehr und bessere Informationen in einer brauchbaren Form: Die Nutzbarkeit der Informationen sei die Schlüsselfrage. Für Suchen oder Abfragen seien Informationen über besonders besorgniserregende Stoffe (Substance of Very High Concern, SVHC) in spezifischen Abfallprodukten und Warnungen nützlich, die auf die Anwesenheit von Artikeln hinweisen, die einen bestimmten Schwellenwert an SVHC übersteigen – gefolgt von EU-Richtlinien, wie damit zu verfahren ist. Beispielsweise enthalten Altfahrzeuge nur teilweise mit SVHC kontaminierte Bauteile – Armaturenbrett oder Stoßdämpfer –, die aber – je nach Herstellungsdatum – auch nicht alle belastet sind. Andererseits ist nichts darüber bekannt, welche Substanzen in fünf bis zehn Jahren als bedenklich angesehen werden, wenn diese Produkte zu Abfällen werden. Es sei offen, ob Unternehmen haftbar gemacht werden können, wenn sie die SCIP-Datenbank in der täglichen Praxis nicht voll einsetzen. Kann ein einzelnes Recyclingunternehmen rechtlich belangt werden, falls dem entsprechenden Betrieb die Informationen aus der Datenbank für seine Vorgehensweise entgangen sind? Und kann ein einzelnes Unternehmen, das mit Sperrmüll oder Massengut umgeht, zur Durchsicht von Millionen Einträgen zur Verantwortung gezogen werden?

Die FEAD-Referentin trat darum dafür ein, dass für spezifische Abfallströme ein Leitfaden für die Nutzung der Datenbank auf Basis einer Risikobewertung entwickelt wird. Dass die Kreislaufwirtschaft einfachere und verlässliche Sekundärrohstoffe braucht. Und dafür, dass die Datenbank Recycling fördert, nicht bestraft.

Entwicklung „äußerst bedenklich“
Der ursprüngliche Referentenentwurf zur SCIP-Datenbank vom August 2019 erfuhr in den nächsten politischen Verhandlungsstufen eine inhaltliche Änderung. Die Elektroindustrie sah darin einen negativen Trend mit zusätzlichen Anforderungen und bewertete die Entwicklung der SCIP-Datenbank als „äußerst bedenklich“.

Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI), der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (bitkom) und der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) machten im Januar 2020 ihrem Unmut Luft. Sie kritisierten in einer Stellungnahme, dass die verpflichtenden Anforderungen durch die aktuelle Konzeption der SCIP-Datenbank den gesetzlichen Rahmen bei weitem überschreitet. Informationen zu langen, globalen, mit vielen Parteien involvierten und daher komplexen Lieferketten würden die Unternehmen vor große Herausforderungen stellen und der Aufwand ihre Kapazitäten übersteigen. Die Fristsetzung – erster Zugriff auf die Datenbank im Herbst 2020, Deadline für die Informations-Übermittlung am 5. Januar 2021 – sei unrealistisch. Eine Abschätzung von Machbarkeit, Folgen, Zielwirksamkeit und Effizienz der Implementierung sei „vollständig unterblieben“.

Zudem sei der Abfallstrom bei Komponenten, komplexen Geräten und sehr komplexen Maschinen nicht homogen, eine Zuordnung zu einzelnen Stoffen und Materialien und SVHC erfolge daher nicht beziehungsweise sei unmöglich. Außerdem – so das Statement der Elektroindustrie – dürfe die Umsetzung nur innerhalb des Rahmens von Artikel 33 REACH und Abfallrahmenrichtlinie stattfinden – ohne Interpretationen, Abweichungen oder Verschärfungen des Wortlauts durch EU-Kommission, ECHA oder einzelne Mitgliedstaaten.

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Foto: Francis Ray / Pixabay

426.370 Kombinationen möglich
Rund ein halbes Jahr später meldete auch die Fachtoxikologin Beate Kummer Bedenken im Hinblick auf die Realisierbarkeit und Wirksamkeit einer Material-Datenerfassung an. Für die Fahrzeugindustrie bedeutet eine solche Datenbank, für Tausende von einzelnen betroffenen Artikeln pro Fahrzeug alle notwendigen Informationen zu SVHC von den Zulieferern in der EU und außerhalb der EU zu beziehen und zusätzlich eine Investition von mehreren Milliarden Euro. In der Elektro- und Elektronikindustrie sind mehrere Lieferanten pro Bestückposition üblich, gibt es für viele Bauelement keinerlei Identifikationsmerkmale und sind allein für Messingprodukte mit geringen Bleianteilen 426.370 Kombinationen möglich, die in die Datenbank einzupflegen wären. In der Recyclingwirtschaft hingegen erlaubt es das Tagesgeschäft kaum, Einzelstoffinformationen für jedes Bauteil eines Fahrzeugs über bedenkliche Stoffe zu ermitteln. Zudem brachte ein Marktüberwachungsprogramm in 15 Ländern zutage, dass gegen die nach REACH-Verordnung Artikel 33 seit 2007 bestehende Informationspflicht über besorgnisrerregende Stoffe zu über 80 Prozent verstoßen wird. Daraus sei die Konsequenz zu ziehen: „Schon heute gibt es kaum Fälle, in denen verwertete Abfälle zu einem Schadstoffproblem in der Produktion geführt haben. Heute besteht die viel größere Herausforderung darin, mehr Abfälle in ein hochwertiges Recycling zu bringen, um mehr und vor allem nicht erneuerbare Ressourcen einzusparen. Im schlimmsten Fall wird SCIP dazu führen, dass noch mehr Schadstoffausschleusung im Recycling gefordert wird, was dann zu noch mehr Beseitigung von Abfallströmen führt.“

Nicht der große Wurf
Im September 2020 sahen sich die vier großen Verbände der Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft zu einem Positionspapier veranlasst, in dem sie die SCIP-Datenbank als unzureichend bemängelten, da es ihr an Praxistauglichkeit mangelt und somit keine praxisrelevanten Verbesserungen zu erwarten seien. Obwohl jedes Instrument zur Unterstützung der Recycling- und Entsorgungswirtschaft begrüßt werde, sei das in dieser Form nicht der große Wurf für mehr Kreislaufwirtschaft, urteilte BDE-Präsident Peter Kurth. Viele Produkte hätten einen sehr langen Produktlebenszyklus und würden erst nach Jahren entsorgt, seien aber nicht in der neuen Datenbank erfasst, merkte VDM-Präsidentin Petra Zieringer an. Da Recycling- und Entsorgungsunternehmen in Tonnen- und nicht in Einzelstückmaßstäben arbeiten, sei aus Effizienzgründen die Ermittlung der Einzelstoff-Informationen anhand der Datenbank für jedes Bauteil eines Erzeugnisses nicht mit der Praxis vereinbar, gab bvse-Hauptgeschäftsführer Eric Rehbock zu bedenken. Und in den Abfallströmen der Stahl-Recyclingbetriebe sei die Zuordnung der verschiedenen Bauteile zu einzelnen Stoffen und Materialen nicht möglich ist, kritisierte BDSV-Präsident Andreas Schwenter.

Grundsätzlich begrüßten die Branchenvertreter zwar die SCIP-Datenbank als ein Instrument zur Verbesserung des Recyclings und zur Optimierung von Kreisläufen – jedoch nicht in der geplanten Form. Vielmehr sehen sie in der zusätzlichen Einrichtung eines Dialogforums aller Akteure die praxisnahe Möglichkeit, die Arbeitsabläufe für die beteiligten Unternehmen im Alltag weiter zu verbessern.

Was tatsächlich damit gemacht wird
Kritik kam auch von der europäischen Technologieindustrie, deren 770.000 Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von 2,1 Milliarden Euro auf EU-Ebene von Orgalim repräsentiert werden. In einem Positionspapier bemängelte die Organisation unter anderem die Praktikabilität und die Proportionierung der Datenbank, hielt die Terminierung für verfrüht und unrealistisch, sprach sich gegen die Ausweitung der Anzeigepflichten aus, betonte die Einhaltung bestehender Standards, forderte die Wahrung von Betriebsgeheimnissen und schlug – aufgrund fehlender vorheriger Begutachtung – eine Folgenabschätzung durch die EU-Kommission vor. Zusätzlich befürwortet Orgalim eine Verschiebung der Deadline um mindestens ein Jahr.

Die negative Grundhaltung der neuen Datenbank gegenüber lässt nicht erkennen, dass sie in der bestehenden Form auf breite Zustimmung trifft und in die Praxis umgesetzt wird. Dabei hatte noch beim zweiten SCIP-Workshop dessen Leiter Jack de Bruijn darauf hingewiesen, dass die Europäische Chemikalien-Behörde (ECHA) „ein reges Interesse an weiterer Zusammenarbeit mit Benutzern (Entsorgern und Konsumenten) habe, um deren Bedürfnisse besser zu verstehen“. Und er hatte ausdrücklich betont, „das Leitziel sei nicht, die Informationen in die Datenbank zu bringen, sondern zu schauen, was tatsächlich damit gemacht wird“. Es scheint, dass nur ein Dialog allen Beteiligten ermöglichen wird, dem Ziel eines verbesserten Material-Informationsflusses näherzukommen.

(EU-Recycling 10/2020, Seite 12, Foto: Francis Ray / Pixabay )

 

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