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Baumaterialpässe und -kataster: Dokumentationen für zukünftige Rohstofflager

Jeder Mensch besitzt einen Personalausweis und jedes Auto Fahrzeugpapiere, aber die Identität von Bauabfällen und in Gebäuden verbauten Materialien ist weitestgehend unbekannt. Das soll sich zukünftig ändern. Denn die Eigenschaften von Bauabfällen können untersucht und in einem Material-Pass festgehalten werden. Und die Rohstoffe, die in Gebäuden stecken, lassen sich erfassen und in Katastern für die Zukunft speichern.

Die Idee, Bauabfälle in einen Kreislauf einzubinden, ist nicht neu. In allen Hochkulturen verwendeten die Menschen Steine oder Holz von Siedlungen, Tempeln und Kirchen oder Burgen für den Neubau. Die damalige „direkte“ Nutzung mehr oder weniger „zufällig“ vorhandener Materialien ist inzwischen einer Bauwirtschaft gewichen, die von Angebot und Nachfrage bei Neuware und Recyclingstoffen bestimmt wird. Was auf dem Markt an Produkten und Restmaterial vorhanden ist, kann für Neubauten eingesetzt werden. Oder es fehlt wie in jüngster Zeit, falls die Lieferketten unterbrochen sind. So meldete beispielsweise das ifo-Institut noch im Februar dieses Jahres, dass deutsche Unternehmen im Hochbau seltener unter Versorgungsengpässen leiden: Nach 31,3 Prozent im Dezember 2021 sahen sich nur noch 25,3 Prozent der Befragten wirtschaftlich beeinträchtigt. Mit Ausbruch des Ukraine-Krieges – angesichts einer beginnenden Unsicherheit der Lieferketten – stieg der Prozentsatz im April wieder auf 37,2 Prozent. „Es fehlt Material, Rohstoffe und Energie werden immer teurer, es gibt kaum Personal. Die Bauwirtschaft droht, in eine Rezession abzurutschen“, mutmaßte das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Informationen fehlen
Die Abfallwirtschaft trägt seit Jahren ihren Teil dazu bei, einem möglichen Materialmangel vorzubeugen. So wies der bislang letzte Monitoring-Bericht Kreislaufwirtschaft Bau im Jahr 2021 mit Rückgriff auf Daten von 2018 eine Verwertungsquote von insgesamt knapp 95 Prozent bei den Fraktionen ohne Bodenaushub und eine von rund 94 Prozent für Bauschutt aus.

Allerdings rangiert Verwertung in der Abfallhierarchie deutlich unter Recycling und Vorbereitung zu Wiederverwendung. Zudem stehen die Daten solcher und anderer Materialien nicht alle und allen zur Verfügung: „Viele dieser Abfälle könnten mit einer richtigen Planung und einem richtigen Einsatz recycelt oder wiederverwendet werden. Da aber Informationen über Materialien, ihre Verarbeitung, Eigenschaften oder Inhaltsstoffe fehlen, werden sie nicht wieder genutzt“, kritisiert die Deutsche Energie-Agentur GmbH auf ihrer Gebäudeforum-Webseite. Und schließlich fehlt in dieser Auflistung ein ganz wesentlicher Faktor: das potenzielle Aufkommen an Baumaterialien und -abfällen.

Ein recycelbares Rohstofflager
Mit Rückgriff auf Daten von 2010 schätzt das Umweltbundesamt in Deutschland einen Bestand an Gebäuden und Infrastrukturen von rund 28 Milliarden Tonnen und sieht darin „inzwischen ein bedeutendes, menschengemachtes Rohstofflager, das nach Nutzungsende wieder dem Recycling zugeführt werden kann“. Auch Matthias Heinrich, Urban Mining-Spezialist beim Forschungs- und Beratungsinstitut EPEA, geht von einem Rohstofflager von 29 Milliarden Tonnen aus, wovon jedoch die Gebäudesubstanz nur 15 bis 16 Milliarden Tonnen ausmacht. Doch habe man „nur zu einem vergleichsweise geringen Anteil die durch Bautätigkeiten ausgelösten Stoffströme und -lager bisher räumlich erfasst“.

Datensätze für die Wiederverwendung
Hierbei könn(t)en Material-Pässe Abhilfe schaffen, die Auskunft über Indikatoren wie beispielsweise Menge, Beschaffenheit oder Verfügbarkeit der Baustoffe geben. Bereits 2012 definierte ein Wissenschaftlerteam Baustoff-Zertifikate als „Datensatz, der die Charakteristik von Materialien in Produkten beschreibt, was ihnen Wert für Wiederherstellung und erneute Nutzung gibt. Die Zertifikate sind ein Marktmechanismus, um Produktdesign, Materialrückgewinnungs-Systeme und eine Kette von Besitzern zu befördern, um Qualität, Wert und Versorgungssicherheit der Materialien zu steigern, damit sie in kontinuierlichen oder geschlossenen Kreisen wiederverwendet oder nutzbringend in das biologische System zurückgeführt werden.“ Die Idee, die Anlass zu derartigen Zertifikaten gibt, ist das Designprinzip „Cradle to Cradle“, das in den 1990er Jahren von Prof. Dr. Michael Braungart, William McDonough und EPEA Hamburg entwickelt wurde. Es beschreibt und intendiert „die sichere und potentiell unendliche Zirkulation von Materialien und Nährstoffen in Kreisläufen“.

428 unterschiedliche Material-Pässe
2015 nahm das EU-Forschungsprojekt „Buildings as Material Banks“ (BAMB), ein Horizon 2000-gefördertes Projekt, seine Arbeit auf. 16 Partner aus acht europäischen Ländern wollten untersuchen, wie eine systematische Trendwende im Bausektor durch die Schaffung zirkulärer Lösungen für dynamisch und flexibel entworfene Gebäude einzuleiten wäre. Es sollte Schluss sein mit der Rohstoffverschwendung am Bau – durch Material-Pässe und reversible Gebäudegestaltung. Eine Reihe von Pilotprojekten sind entstanden, die sich Circular Retrofit Lab, Green Design Center, Build Reversible In Conception, Green Transformable Building Lab sowie Reversible Experience Modules nannten. Als Resultat kamen insgesamt 428 Material-Pässe für unterschiedliche Produkte, Komponenten oder Rohstoff-Arten einschließlich Software heraus – hauptsächlich Produkt-Pässe und lediglich sieben Gebäude-Pässe. Die jeweilige Software soll unterschiedlichen Interessenvertretern während verschiedener Prozessphasen zum geeigneten Zugang zu Informationen dienen. (Nähere Informationen bieten drei Videos unter https://vimeo.com/238909741 [1], https://vimeo.com/238910718 [2] sowie https://vimeo.com/307279299 [3].)

Mit Best Practice-Anleitung und Ratgeber
2019 erschien ein 74-seitiges Papier mit Best Practice-Anleitung für Material-Pässe. Es beschreibt umfassend und bis ins Kleinste die vielfältigen möglichen physikalischen, chemischen und biologischen Eigenschaften von Materialien, macht auf einzigartige Produktmerkmale aufmerksam, erklärt unter anderem, welche Eigenschaften für eine Kreislaufeignung notwendig sind, listet Möglichkeiten und Schwierigkeiten bei Wiederverwendung von Materialien auf und deutet an, wo Hersteller und Lieferanten weitere Produktinformationen bekommen können. Im gleichen Jahr wurde ein 50-seitiger Ratgeber „Operational Material Passports“ veröffentlicht, der Anleitungen zum Abfassen der Formulare, zur Kontaktaufnahme mit dem richtigen Ansprechpartner und den geeigneten Datentransfer gibt. Inwieweit derartige Material- oder Ressourcenpässe für Gebäude inzwischen international – auch unter dem Namen Circularity- oder Cradle-to-Cradle-Pass – verbreitet sind, lässt sich nur schwer abschätzen. Immerhin wurden im Rahmen von BAMB Zertifikate für Bauprodukte in Belgien, Bosnien und Herzegovina, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Israel, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz, Spanien, dem Vereinigten Königreich und den USA entworfen. Im Vereinigten Königreich arbeiteten jedenfalls die Architekten und Designer von Orms daran, ein für alle akzeptables Open Source-Zertifikat für bestehende Gebäude zu entwickeln, und riefen eine Material-Datenbank ins Leben, die durch Ressourcenpässe die Informationen für den Benutzer filtert. Und in Dänemark wies 2020 der Akustikplatten-Hersteller Troldtekt auf seiner Webseite extra darauf hin, dass ein neuer Materialpass „das Bauen gesund und zirkulär“ macht.

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Screenshot: Webseite Oogstkaart

Die „Erntekarte“
In den Niederlanden hatten Architekten schon 2010 an der Realisierung eines Konzepts gearbeitet, das auf Materialien in nächster Umgebung von Bauvorhaben zugriff, die vorher gesucht und kartiert worden waren. Dieses System führte 2012 zur Entstehung einer Oogstkaart (international: Harvest Map), einer „Erntekarte“. Nach Darstellung von Super­use Studios, einem internationalen Architekturkollektiv für zirkuläres und nachhaltiges Design, wurde diese Karte im Internet als Marktplatz für wiederverwendbare Baumaterialien auch von anderen Architekten, Designern, Bauunternehmern und Projektentwicklern genutzt. Angeblich wurde die Plattform 2019 an das Urban-Mining-Unternehmen New Horizon verkauft. Unter www.oogstkaart.nl [5] findet sich jedenfalls aktuell noch eine Karte, auf der auf verschiedene Materialien als dem „Urban Mining-Potenzial der Niederlande“ zugegriffen werden kann.

Materialien bekommen eine Identität
Die Niederländer gingen noch einen Schritt weiter. Sie gründeten die Plattform Madaster, die sich als „Grundbuchamt für Materialien und Produkte“ versteht und auf der Einblick gewährt wird, welche Materialien und Produkte wo zu finden sind und welche Auswirkungen sie auf die Kreislaufwirtschaft und die Umwelt haben. „Mit dem Madaster-Materialpass erhalten Baumaterialien eine Identität. So wird verhindert, dass sie als Abfall in der Anonymität verschwinden“, wird Thomas Rau von Madaster zitiert. Laut Deutscher Energie-Agentur sollen in den Niederlanden mittlerweile über 2.000 Gebäude vollständig registriert sein. Eigene Madaster-Plattformen gründeten sich auch in der Schweiz, in Norwegen und in Deutschland. In Österreich gingen im Juni 2022 Madaster und der Immobilienentwickler und -betreiber Value One durch ein Joint Venture eine neue Partnerschaft ein.

In Deutschland mehren sich die Fälle, in denen Material-Zertifikate – zunehmend mit Zutun von Madaster – erstellt werden. Das zeigt unter anderem das Beispiel eines neuen Feuerwehrhauses im baden-württembergischen Straubenhardt im Frühsommer 2022. Hier wählte EPEA gemeinsam mit Architekten und Fachplanern knapp 250 Einzelmaterialien nach Prüfung auf Materialgesundheit, Trennbarkeit, Recyclingfähigkeit und CO2-Emissionen bei Herstellung und Transport aus. Diese Daten inklusive Hersteller kamen in einen „Building Circularity Passport“, der am Ende der Nutzungszeit des Feuerwehrhauses dazu beitragen soll, wiederverwertbare Baustoffe bereits bei der Planung einzubeziehen, sie gezielt bei Umbau oder Abriss aufzubereiten und sie an geeigneter Stelle wiederzuverwenden.

Vom Rohstoff-Restwert profitieren
Auch beim Stuttgarter Plusenergiehaus OWP12 kam das „Cradle-to-Cradle“-Prinzip mit Blick auf Kreislauffähigkeit, Schadstofffreiheit und einfache Demontierbarkeit zum Tragen. Die Baumaterialien des vom Beratungs- und Planungsunternehmen Drees & Sommer entworfenen Gebäudes lassen sich nach einem späteren Gebäudeabriss „weitestgehend in hoher Qualität wiederverwerten oder in einen biologischen Kreislauf zurückführen“. Ein entsprechender Ressourcenpass gibt Auskunft über die verbauten Materialien und deren chemische Beschaffenheit.

In ähnlicher Weise erfasst der Kreis Lippe als einer der ersten Kreise deutschlandweit, wie viel Beton, Aluminium oder Holz in seinen Liegenschaften verbaut sind. Ziel des Katasters für Baumaterialien ist es, die eigenen Gebäude zu bewerten und ein potenzielles Rohstofflager aufzubauen. „Der Einblick in die Sachwerte der Gebäude zeigt deren aktuellen Rohstoff-Restwert. Davon profitieren die Eigentümer in hohem Maße“, ist sich Patrick Bergmann, Geschäftsführer von Madaster Germany, sicher. Heidelberg will noch höher hinaus: Als erste Stadt Europas mit dem Pilotprojekt „Circular City – Gebäude-Materialkataster für die Stadt Heidelberg“ setzt man hier auf das Urban Mining-Prinzip. Ziel ist nach Darstellung der Stadt „eine vollständige ökonomische und ökologische Analyse des gesamten Gebäudebestands, der in einem digitalen Materialkataster zusammengefasst wird“. Für das ehrgeizige Vorhaben hat sich die Stadt mit HeidelbergCement als weltweit größtem Baustoffunternehmen, der Material-Plattform Madaster und dem Umweltberatungsinstitut EPEA, einer Tochter des Beratungsunternehmens Drees & Sommer, erfahrene Experten im Bereich des nachhaltigen Bauens ins Boot geholt.

650 Millionen Tonnen einsparen
Alles in allem birgt laut Briefing der Europäischen Umweltagentur der vermiedene Einsatz neuer Baumaterialien ein großes Potenzial für den Klimaschutz, insbesondere die Einsparung von CO2-Emissionen und Materialverbrauch durch Verlängerung der Lebensdauer bestehender Gebäude, beispielsweise durch Reparaturen und Nachrüstungen statt Abriss, und die effizientere Nutzung von Gebäuden, um die Nachfrage nach Neubauten zu verringern. Darüber hinaus könnten nach Agenturschätzungen ehrgeizige zirkuläre Renovierungsstrategien – wie die Verwendung von Materialien, die recycelt oder für die Demontage vorgesehen sind – von 2022 bis 2050 kumulativ etwa 650 Millionen Tonnen Materialien reduzieren und erhebliche Mengen an CO2 einsparen, würden die Strategien der Renovierung des EU-Gebäudebestands umgesetzt.

(Erschienen im EU-Recycling Magazin 11/2022, Seite 12, Foto: O. Kürth)

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