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Internationaler bvse-Altpapiertag: „Wir werden für alles eine Lösung haben“

Auf dem 25. Internationalen bvse-Altpapiertag am 23. April in Stuttgart erklärte Werner Steingaß, dass die Altpapierbranche die dreijährige Dauerkrise bewältigt habe. Sorgen bereitet der Branche jedoch die Novelle der EU-Abfallverbringungsverordnung: „Die Politik greift – ohne zu unterscheiden zwischen qualitativ aufbereiteten Verwertungsabfällen einerseits und unbehandelten Abfällen andererseits – massiv in funktionierende Märkte von Sekundärrohstoffen ein.“

Mehr als 500 Teilnehmende aus Europa, Nordamerika und Asien zählte die Veranstaltung im Mövenpick Hotel Stuttgart Airport, die wieder von Michael Brocker vom WDR moderiert wurde. In seiner Eröffnungsrede beleuchte Werner Steingaß, bvse-Vizepräsident und Vorsitzender des bvse-Fachverbandes Papierrecycling, Kernthemen aus den vergangenen zwölf Monaten. So haben die konjunkturbedingten Schwierigkeiten der Papierbranche zu einem zeitweise ganz erheblichen Aufbau der Lagerbestände geführt.

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Thomas Braun und Werner Steingaß (Foto: bvse)

Schwierige Gemengelage
In der ersten Jahreshälfte 2022 zeigte sich die Altpapiernachfrage der inländischen Papierproduzenten insgesamt als sehr gut, und die Altpapierlager der Recyclingwirtschaft in Deutschland waren entsprechend leer. Preislich bewegte sich der Altpapiermarkt auf einem historisch nie dagewesenen hohen Niveau, beschrieb Steingaß die Situation. Die Altpapierimporte nach Deutschland erreichten ein hohes Level. Nach und nach wirkten sich die Folgen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine jedoch auch auf die Papierproduzenten aus. Dabei hatte die Branche nicht nur mit hohen Energie- und Treibstoffkosten zu kämpfen, sondern beispielsweise auch mit der verheerenden Frachtsituation insgesamt. Geschätzt 100.000 Fahrer aus der Ukraine und ihre Lkws fehlten innerhalb kürzester Zeit. Ladekapazität wurde zu einem knappen Gut. Die Frachtkosten verteuerten sich immens. Die Preissteigerungen für die energieintensiven Papierfabriken und die erstmals seit vielen Jahren aufgrund des Konsumenteneinbruchs, insbesondere im Verpackungsbereich, zu verzeichnende sehr geringe Nachfrage führten zu existenziell bedrohlichen Situationen. Kurzfristige Abstellmaßnahmen und damit einhergehende erhebliche Kürzungen der Altpapierordermengen sowie nie dagewesene Preiskorrekturen ab September letzten Jahres waren die Folge und stellten die Branche vor extreme Herausforderungen. Um den Jahreswechsel reduzierte die inländische Papierindustrie ihre Altpapierabnahme wie gewohnt konjunkturbedingt, dann aber noch weiter. Im Ergebnis kam es zu einem erheblichen Aufbau der Lagerbestände bei den Altpapier-Recyclern – mit all seinen negativen Nebenwirkungen wie beispielsweise der Gefährdung von Versicherungsschutz durch überfüllte Lager.

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Professor Clemens Fuest hält es für einen großen Fehler, wenn die EU sich vom Außenhandel zurückzieht (Foto: bvse)

„In dieser schwierigen Gemengelage“, stellte Steingaß fest, „erwies sich der Altpapier-Export wieder einmal als unverzichtbares Ventil. Die Altpapiernachfrage aus Asien und Indien war hoch, und die Störung der Lieferketten löste sich Stück für Stück weiter auf. Das Gesamtbild im Inland konnte hierdurch verbessert werden. Ohne dieses Ventil der Marktentlastung hätte diese Krise nicht bewältigt werden können, denn wir sind in Europa nach wie vor Nettoexporteur von Altpapier in Höhe von rund sechs Millionen Tonnen pro Jahr.“

Exporte – ein unerlässliches Regulativ
Steingaß machte auf dem 25. Internationalen bvse-Altpapiertag deutlich, dass Exporte von qualitativ behandelten, normierten Rohstoffen aus dem Recycling ein unerlässliches Regulativ für die Funktionalität der innereuropäischen Märkte seien: „Verstopfte Märkte wie im letzten halben Jahr führen ohne einen funktionierenden Export zum Verlust des Wertes der Ware Altpapier. Und das können wir uns nicht leisten. Die Erfassung, Aufbereitung und zielgerichtete Vermarktung von Altpapier kostet Geld, und das muss über den Wert der Ware kompensiert werden. Über die Gefahr reduzierter oder gar wegfallender Einnahmequellen auch für die Kommunen wollen wir gar nicht reden. Wenn wir es zulassen, dass durch verstopfte Märkte – auch wenn es kurzzeitig ist – der Wert der Ware die Kosten nicht mehr deckt, dann gehen Teile dieses wertvollen Rohstoffs Altpapier der Wertschöpfungskette verloren, teilweise auch unwiederbringlich verloren.“

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Moderator Michael Brocker und
Ranjit Singh Baxi (Foto: bvse)

Deutschland habe die besten Erfassungssysteme mit der besten Qualität. Die ansässigen Papierfabriken könnten so eine Spitzen-Altpapiereinsatzquote von 79 Prozent vorweisen. Um all dies zu erhalten, dürfe der Wert der Ware Altpapier auch in schwierigen Zeiten nicht verloren gehen. Das funktioniere auf Dauer nur über einen freien Welthandel und nicht durch Abschottung und Abgrenzung. Laut Steingaß entwickle sich die Novelle der EU-Abfallverbringungsverordnung aber „genau in diese Richtung“ der Einschränkung und Behinderung: „Die Politik greift – ohne zu unterscheiden zwischen qualitativ aufbereiteten Verwertungsabfällen einerseits und unbehandelten Abfällen andererseits – massiv in funktionierende Märkte von Sekundärrohstoffen ein. Die erfolgreiche Arbeit der Branche wird durch die drohende Behinderung des freien Welthandels mit aufbereitetem Altpapier massiv gefährdet.“

Umso wichtiger sei es, das Thema „Ende der Abfalleigenschaft für Altpapier“ voranzutreiben. Steingaß bezeichnete es als ein Top-Thema in 2023. Altpapier kann nach Erfüllen bestimmter qualitativer Kriterien das Ende der Abfalleigenschaft erreichen. Dies entspricht bereits der gängigen Rechtsauffassung und Umsetzung in Spanien, Italien, Frankreich und der Wallonie sowie in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Nach Ansicht des bvse ist es längst überfällig, dass der Gesetzgeber dies in Deutschland bundesweit anerkennt.

„Never change a running system“
Steingaß ging auch auf die EU-Verordnung über Verpackungen und Verpackungsabfälle ein, die derzeit in Brüssel beraten wird. Die Ziele dieses Entwurfes, darunter die Stärkung des Verpackungsrecyclings auf dem Weg zu mehr Ressourcenschutz und Nachhaltigkeit, werden begrüßt. Allerdings lehnt der bvse-Fachverband Papierrecycling die generelle Vorgabe zum verbindlichen Einsatz wiederverwendbarer Verpackungen ab.

„Der dabei pauschal unterstellte Vorteil einer Mehrwegverpackung ist nicht belegt“, erläuterte Steingaß. „Im Gegenteil: Der Aufbau notwendiger Rücknahmesysteme für Verpackungen aus PPK brächte deutlich mehr negative als positive Effekte mit sich. Das erfolgreiche, höchst effiziente Recyclingsystem von PPK-Verpackungen – also die Wiederverwertung statt Wiederverwendung – würde nachhaltig Schaden nehmen, und getreu dem Motto »never change a running system« sollte hieran nichts geändert werden.“ Der Mehrwert bei PPK bestehe gerade darin, dass der Faseranteil in den bereits bestehenden Recyclingsystemen ökologisch vorteilhaft und effizient genutzt werde. Gerade bei PPK seien daher alle Anforderungen an Mehrweglösungen überflüssig.

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Für bvse-Präsident Henry Forster sind die gestiegenen Energiekosten gegenwärtig das Hauptproblem (Foto: Marc Szombathy)

Auch die Dekarbonisierung ist für die Altpapierbranche ein wichtiges Thema. Der bvse hat sich zusammen mit dem TÜV Süd der Sichtbarmachung von CO2-Reduktion bei der Erfassung und Aufbereitung von Sekundärrohstoffen gewidmet. Über einen standardisierten Prozessablauf können der CO2-Rucksack und auch CO2-Kennzahlen in der Erfassung und Aufbereitung von Altpapier ermittelt werden. „Der Vorteil dieser Feststellung besteht darin, die eigenen Werte und das Einsparpotenzial zu erkennen und hieraus auch gezielt in Energieeffizienz investieren zu können. Hier gilt es, die Nase vorne zu haben und nicht hinterher zu laufen. Hier wollen wir mit der Unterstützung unserer Mitgliedsunternehmen auch unseren Beitrag zur CO2-Reduktion leisten“, schloss Werner Steingaß seine Ausführungen.

Eine verlässliche Politik ist gefragt
Für bvse-Präsident Henry Forster sind die gestiegenen Energiekosten gegenwärtig das Hauptproblem der Altpapierbranche sowie des Mittelstandes als wichtiger Säule der Recycling- und Entsorgungswirtschaft. „Energie muss wieder bezahlbar werden, um drohende wirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden abzuwenden“, forderte Forster in seinem Grußwort zum Internationalen Altpapiertag. Dazu braucht es eine verlässliche Politik.

„Der Mittelstand und insbesondere die Entsorgungswirtschaft ist in der Region vernetzt und kann seine Aktivitäten nicht mal schnell ins Ausland verlegen, weil dort niedrigere Energiepreise locken“, hob der bvse-Präsident hervor und machte mit einem Beispiel auf die prekäre Situation der Unternehmen aufmerksam: „Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern produziert circa 2,5 mal mehr Energie, als es selbst verbraucht, hat aber mit die höchsten Netzentgelte und Stromkosten in Deutschland. Dies ist absurd und schadet nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der Industrie und dem Handwerk.“ Die Unternehmen des Mittelstandes müssten hier zusammenstehen, „aber vor allem ist die Politik gefragt, sich dieses Problems dringend anzunehmen“, appellierte Henry Forster nachdrücklich.

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Jonás Martín (Foto: Marc Szombathy)

Erholung auf niedrigem Niveau
Auf die wirtschaftlichen Folgen der Energiekrise und Außenhandelsrestriktionen ging die Keynote von Professor Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts in München, ein. Thema des Gastvortrages war in diesem Zusammenhang auch der US-Inflation Reduction Act. Das ifo Institut sieht eine gewisse Konjunktur-Stabilisierung in Europa und erwartet, dass diese auch die energieintensive Papierindustrie in diesem Frühjahr erreicht: Die drohende Gasmangellage hat sich nicht eingestellt, und die Lieferengpass-Problematik hat sich entspannt. Die Umstellung der Gasversorgung, der Bau von Terminals für LNG (Liquefied Natural Gas – Flüssig-Erdgas) hat seitens der Regierung dazu beigetragen. Die milden Wintertemperaturen haben den Gasverbrauch reduziert. Die schlechte Konjunktur in China hat dazu geführt, dass die LNG-Nachfrage im Land gering war. Es stand mehr LNG zur Verfügung, als eigentlich gebraucht wurde. Aber der kommende Winter werde noch einmal kritisch. China könnte wieder mehr LNG nachfragen.

„Das erklärt gesamtwirtschaftlich, warum wir eine gewisse Erholung haben. Diese Erholung von niedrigem Niveau hat alle Bereiche der Wirtschaft erreicht, mit Ausnahme der Bauindustrie. Wir sind in einer Situation mit einer hohen Inflation und niedrigem Wachstum, also in einer Stagflation“, fasste Fuest zusammen. Wenn auch die Gaspreise wieder auf das Niveau vor Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine gefallen sind, rechnet der Ökonom doch weiterhin mit strukturell höheren Energiepreisen – aufgrund der Umstellung von Pipelinegas auf LNG und weil das Wohlstandsniveau in Europa wegen der Verteuerung der Importe stärker gesunken ist, als das reale BIP zeigt. Die Inflation geht zwar infolge sinkender Energiepreise zurück, doch steigt die Kerninflation. Bedingt durch Angebotsbeschränkungen, bleibt mittelfristig der Inflationsdruck.

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Seine Expertise wird der Branche fehlen: Simon Ellin verabschiedete sich in den Ruhestand (Foto: Marc Szombathy)

„Der Kuchen ist kleiner geworden“
Auf diese Entwicklung mit Lohnerhöhungen zu reagieren, die die Inflation voll ausgleichen, würde eine Lohn-Preis-Spirale auslösen, meint Fuest: „Jetzt sind die meisten Lohnerhöhungen geringer als die Inflationsrate, insofern ist das noch nicht das Hauptproblem. Der Kuchen – also das, was aus der gesamtwirtschaftlichen Produktion insgesamt zur Verteilung zur Verfügung steht – ist aber kleiner geworden; deswegen kann es keinen vollen Ausgleich geben.“ Lohnerhöhungen kämen für ihn zum falschen Zeitpunkt. Das 2019-BIP-Niveau werde in 2023 und das Vorkrisenniveau nicht vor dem Jahr 2025 erreicht. Der Wohlfahrtsverlust sei insgesamt groß und könne nicht ausgeglichen werden. Die Zinserhöhungen der Zentralbanken zur Inflationsbekämpfung auf womöglich 4,5 Prozent im laufenden Jahr hält der Ökonom hingegen grundsätzlich für sinnvoll, räumt aber ein, dass das für die Konjunktur ein Dämpfer wäre.

Fuest kritisierte auf dem Altpapiertag die Abschaltung der Kernkraftwerke in Deutschland und die Pläne der Bundesregierung, wasserstofffähige Gaskraftwerke zu bauen und als Brückentechnologie einzusetzen. Noch immer dominierten fossile Energieträger, der Zuwachs der Erneuerbaren Energien sei „bescheiden“. Kohle und Kernkraft würden 40 Prozent unserer Stromversorgung ausmachen.*) „Gelingt es, bis 2030 vierzig bis fünfzig Gaskraftwerke zu errichten – mit Bauantragsstellung und der ganzen Bürokratie und behördlichen Auflagen, die erfüllt werden müssen? Wenn Sie ein Windrad bauen wollen, dauert es im Schnitt fünf Jahre, bis es realisiert ist. Woher kommen auch das Gas und künftig der Wasserstoff für die Gaskraftwerke? Wir haben ja eben erst unseren Gasverbrauch heruntergefahren und sind so über den Winter gekommen. Wir haben nicht die Gasmengen, um Kernkraft und Gas zu ersetzen.“ Das erklärt für Fuest, „warum die Unsicherheit über die Energieversorgung groß ist“. So sei es auch schwierig, Anleger zu überzeugen, in den Standort Deutschland zu investieren.

*) Die Kernkraft machte zuletzt circa sechs Prozent im bundesweiten Energiemix aus, was Statistiken belegen. Der Anteil Erneuerbarer Energien liegt in Deutschland (Stand: 2022) bei 46,2 Prozent – die Redaktion.

Nicht noch mehr Subventionen
Auf den protektionistischen Inflation Reduction Act –„die USA verabschieden sich von einer globalen Handelsordnung, die sie immer selbst verteidigt haben“ – sollte die EU nicht mit neuen, schuldenfinanzierten Subventionstöpfen reagieren, riet Fuest: „Wir haben eine sehr hohe Inflation und mangelnde Produktionskapazitäten. Wenn Sie in einer solchen Lage neue Schulden aufnehmen und noch mehr Subventionen zahlen für bestimmte Industrien, dann führt das nicht dazu, dass mehr investiert wird. Es führt dazu, dass die Zinsen steigen und Investitionen in anderen Bereichen sinken. Das erleben wir in der Bauindustrie. Die Politik tut gerne so, als könne man immer an wirtschaftlicher Aktivität hinzufügen, wenn man nur Papier bedruckt und Staatsanleihen aushändigt, also Kredite aufnimmt. Dabei wird vergessen, dass unsere Produktionskapazitäten beschränkt sind. Das heißt, wenn wir bestimmte Aktivitäten subventionieren, dann werden andere Aktivitäten verdrängt, weil die Finanzierungskosten steigen.“

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bvse-Vizepräsident Werner Steingaß: „Der Altpapier-Export erwies sich wieder einmal als unverzichtbares Ventil“ (Foto: Marc Szombathy)

Die veränderte makroökonomische Lage spreche gegen mehr schuldenfinanzierte Ausgaben (Inflation, Angebotsmangel, crowding out). Europa sollte den Einsatz vorhandener Mittel überprüfen (und eventuell umschichten), sich nicht an Subventionswettbewerben um Einzelprojekte beteiligen, die mit etablierter Technologie arbeiten (z.B. Batteriefabriken), und seine eigene Dekarbonisierung vorantreiben. Aber das ohne Protektionismus – „verzögert nur die Umsetzung“. Auch sollte Europa in Sachen Wettbewerbsfähigkeit (Vertiefung des europäischen Binnenmarktes, Skills-Offensive oder Digitalisierung) seine Hausaufgaben machen und neue Handelsabkommen schließen. Beim Thema Außenhandel sei es in den letzten Jahren nicht so schlecht gelaufen wie befürchtet: „Die Lieferschwierigkeiten heben sich auf. Die Situation entspannt sich. Nichtsdestotrotz wird darüber diskutiert, den Handel aus geopolitischen Gründen einzuschränken. Argument: Wir wollen nicht so abhängig sein von anderen Ländern.“ Clemens Fuest hält es für einen großen Fehler, wenn die EU sich vom Außenhandel zurückzieht, und konstatierte: „Wir neigen in Europa dazu, Handelsabkommen mit Regulierung zu überfrachten. Das ist gut gemeint, verzögert aber die Prozesse, siehe Lieferkettengesetz. Das wird dazu führen, dass die schwächsten Länder abgeschnitten werden vom Handel. Und wir kommen bei diesen Abkommen immer mit Forderungen, was zum Beispiel Indien machen muss, damit sie mit uns handeln können. Wir sollten uns darauf konzentrieren, erst mal Handel zu treiben, und uns erst dann mit diesen anderen Dingen befassen.“

Welthandelsgut Altpapier
Jonás Martín (Market Manager Saica Group, Spanien) informierte über die Entwicklung der Altpapierexporte aus Europa. So ist eine starke Verlagerung der Warenströme festzustellen. Während im betrachteten Zeitraum 2010 bis 2022 die Altpapierexporte nach China um 100 Prozent zurückgingen, stiegen die Ausfuhren nach Vietnam um 52 Prozent, in die Türkei um 32 Prozent und nach Indien um 11 Prozent. Der Bedarf an OCC-Papier zum Recycling erhöhte sich um 50 Prozent, bei den gemischten Sorten brach er um 37 Prozent ein und bei den Zeitschriften-Sorten um 50 Prozent. Die Nachfrage nach Wellpappe sank in Nordamerika um über sechs Prozent und in Europa um etwa fünf Prozent. Leichte Zuwächse sind in Lateinamerika und Asien zu verzeichnen (Quelle: Cepi Monthly Paper for Recycling Report).

Simon Ellin (CEO The Recycling Association und IWPP Ltd, Vereinigtes Königreich) verabschiedete sich auf dem Internationalen Altpapiertag mit einem kritischen Blick auf die Post-Brexit-Politik der britischen Regierung in den Ruhestand. Seine Expertise wird der Branche fehlen. Thomas Braun (bvse-Geschäftsführer, Fachverband Papierrecycling) wollte das bei der Überreichung eines Geschenks dann auch nicht so stehen lassen und lud Ellin zum nächsten Altpapiertag 2024 ein. Der Referent äußerte große Sorgen, sollte das Vereinigte Königreich mit dem protektionistischen Kurs fortfahren und sich von Europa weiter abschotten, was auch die EU-Gesetzgebung hinsichtlich Klima- und Umweltschutz, Recycling und des Transformationsprozesses zu einer Kreislaufwirtschaft betrifft. So hatte der Chef der britischen Umweltagentur zu einem Exportbann für alle im Land produzierten Güter aufgerufen. Staatliche Eingriffe in die Märkte würden die Fortschritte in der internationalen Circular Economy aufhalten, urteilte Simon Ellin.

Hannah Zhao (Director, Fiber, Fastmarkets RISI, USA) schilderte per Videoübertragung die Entwicklung auf den Altpapiermärkten in Südostasien. Demnach sind die südostasiatischen Importe von Büropapier aus Sekundärfasern (RCP) gestiegen. Die Nachfrage wird es voraussichtlich in den nächsten Jahren weiter in die Höhe treiben, da es an eigenen Altpapier-Sammlungen mangelt. Südostasien ist seit 2020 zum größten RCP-Käufer geworden. Insbesondere in Vietnam, Malaysia und Thailand wächst die Nachfrage rasant.

China importierte 2022 etwa zehn Prozent weniger RCP aus Südostasien; auch die chinesische Nachfrage nach Papierverpackungen und recycelten Zellstoff schwächelte. Die Importe von recyceltem Zellstoff aus China sanken im letzten Jahr um 2,2 Prozent – im Vergleich zum Wachstum von 171 Prozent im Jahr 2020 und 30 Prozent im Jahr 2021. Die Importe aus dem nicht-chinesischen Asien verringerten sich 2022 um 2,0 Prozent. Südostasien erscheint nicht mehr als einer von Chinas Hauptlieferanten für Wellpappenrohpapiere: Die chinesischen Importe gingen in der Vergangenheit zurück. China hob die Einfuhrzölle auf die meisten Papier- und Kartonprodukte an.

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Ranjit Singh Baxit: Indien überholt
wirtschaftlich China (Foto: Marc Szombathy)

Ranjit Singh Baxi (President Global Recycling Foundation) sieht eine wachsende Nachfrage nach Verpackungspapieren in den Schwellenländern Indien, China und Brasilien. Als Wachstumstreiber macht der Experte den E-Commerce-Sektor aus, der vermutlich in Indien bis 2025 mehr als 250 Millionen Stammkunden zählen wird. Begünstigt wird die Entwicklung durch einen höheren Lebensstil der Menschen. Das Pro-Kopf-Einkommen steigt und die Mittelschicht in Indien wird voraussichtlich bis 2030 rund 550 Millionen Einwohner umfassen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt rangiert die indische Wirtschaft mittlerweile auf Platz 5 in der Welt. Laut Baxi überholt Indien wirtschaftlich China. Herausforderungen für die indische Papierindustrie sind jedoch: Hohe Energiekosten, fehlende Transport- und Seefrachtkapazitäten, das schlechte Schienennetz auf dem Subkontinent, der Modernisierungsbedarf bei der Hafeninfrastruktur sowie die lokalen Fasersammlungen, die noch zu wenig erbringen. Bei steigendem Verbrauch liegt die inländische Faserrückgewinnungsrate heute bei etwa 30 Prozent. 2010 wurden zwei Millionen Tonnen Fasern importiert, 2022 waren es bereits sieben Millionen Tonnen, und 2023 könnten es zwölf Millionen Tonnen sein. Indien ist heute der 15.-größte Papierproduzent der Welt. Doch Material – noch dazu in guten Qualitäten – ist knapp geworden, seitdem zunehmend mehr Zellstoffexporte nach China gehen. Der Preis für Kraftpapier, dem Hauptrohstoff für die Wellpappenindustrie, ist in den letzten Monaten gestiegen. Die Preise für lokales OCC in Indien schwanken weiterhin.

Wenn es um End-of-Waste geht
„EU-Abfallverbringungsverordnung – Wohin fallen die Würfel?“ Das diskutierten Julia Blees (Policy Director EuRIC), Hans van de Nes (President ERPA) und online zugeschaltet Michael Ernst (Regierungsdirektor Bundesumweltministerium). Die Überarbeitung der Verordnung dauert noch an, und es wird einige Änderungen geben, die nicht vorteilhaft für die Altpapier- und Recyclingbranche sein werden. Bei Verbringungen innerhalb der EU wird die zukünftige digitale Ausführung des Annex VII nach dem Kommissionsvorschlag für sinnvoll erachtet.

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Hans van de Nes und Julia Blees; „Wir müssen weg von diesen Abfalleigenschaften“ (Foto: Marc Szombathy)

Julia Blees wertete das als positives Zeichen. Was der Vorschlag nicht hergibt und wo sie viele Probleme sieht: „Wenn es Unterscheidungen in Klassifizierungen gibt. Damit meine ich zum Beispiel, wenn aus Italien Altpapier als End-of-Waste nach Deutschland geschickt wird, Deutschland End-of-Waste aber nicht anerkennt. Die heutige und auch die künftige Abfallverbringungsverordnung besagen, dass im Zweifel die Verbringung als Abfallverbringung angesehen werden muss. Wir glauben, dass, wenn es um End-of-Waste geht, eine gegenseitige Anerkennung stattfinden muss. Deutschland sollte anerkennen, dass das nationale End-of-Waste aus Italien gilt. Das ist heute nicht der Fall. Das würden wir gerne sehen, um den Sekundärrohstoffmarkt innerhalb der EU zu verbessern.“

Hans van de Nes: „Dieses Beispiel liegt jeder Behörde in Brüssel auf dem Tisch. Beste Altpapierqualität hat in den Niederlanden die Abfalleigenschaft. Geht das Altpapier nach Nordrhein-Westfalen, ist es End-of-Waste, in Baden-Württemberg wieder Abfall und in Bayern wieder End-of-Waste. Ein Wahnsinn, und die neue Gesetzgebung ändert nichts daran. Es ist einfacher, Altpapier außerhalb Europas zu exportieren als Altpapiertransporte quer durch Europa fahren zu lassen. Und dann diese vielen Dokumentationen! Auch wenn das digitalisiert wird: Wir wissen alle, wenn ein digitales System von den Behörden organisiert wird, ist das zehnmal so teuer und dauert Ewigkeiten. Die neue Gesetzgebung hat für den europäischen Markt keine Lösung. Viele Dinge werden sich verschlechtern und zur Rechtsverunsicherung führen.“

„Freien Handel kann man nicht stoppen“
Bei Verbringungen außerhalb der EU sind zwei Arten vorgesehen: Verbringungen in Staaten, die der OECD angehören, wie etwa die Türkei oder die USA. Und Verbringungen in Staaten, die nicht der OECD angehören, wie etwa Indonesien und Indien – wichtige Märkte. Die Verbringungen in OECD-Staaten werden laut Blees im Prinzip administrativ einfacher gestaltet werden als Verbringungen in nicht OECD-Staaten.

„Angenommen wird, dass OECD-Staaten ein ähnliches Level an umweltgerechter Behandlung erbringen können. Was wir aber wissen – was sicher passieren wird –, das sind Auditierungen von Unternehmen in Nicht-EU-Ländern. Das heißt also, die Unternehmen die in Indien oder Indonesien sitzen, müssen auditiert werden. Auditierungs-Ausnahmen könnte es für Unternehmen geben, die in OECD-Staaten sitzen, sofern es eine Vereinbarung zwischen einem OECD-Staat und einem EU-Staat gibt (gibt es noch nicht). Wenn so eine Vereinbarung nicht besteht, dann müssen auch Unternehmen in einem OECD-Staat auditiert werden. Das Audit kann Sinn machen, wenn es praxisgerecht ausgestaltet und machbar ist. Das Audit soll darlegen, dass in Nicht-EU-Ländern der Abfall auch umweltgerecht behandelt wird. Was meint der Begriff Broadly Equivalent im Verordnungsvorschlag? Das ist nicht ganz klar. Die Behandlung soll irgendwie oder ein bisschen ähnlich sein wie in einem EU-Land. Geht das in der Praxis?“

Kritisiert wird, dass die Novellierung der EU-Abfallverbringungsverordnung nur aus Sicht der Umweltministerien, nicht aber der Wirtschaftsministerien in Europa verhandelt wird. Dennoch ist Hans van de Nes überzeugt, dass die Altpapier- und Recyclingbranche auch diese Herausforderung meistern wird: „Wir werden für alles eine Lösung haben. Aber wir müssen weg von diesen Abfalleigenschaften. Für einen gut funktionierenden Markt brauchen wir immer das Ventil Export. Die Hälfte von uns würde nicht hier sitzen, wenn Export nicht möglich wäre. Dafür werden wir kämpfen. Freien Handel kann man nicht stoppen!“

Wie lange wird sich der Prozess noch hinziehen? Zurzeit arbeitet der Europäische Rat an einer eigenen Position. Danach müssen Kommission, Rat und Europäisches Parlament nochmal zusammentreffen. Es geht dann um die Kompromissfindung: Wie soll die Verordnung schlussendlich überarbeitet werden? EuRIC und ERPA glauben, dass das bis Ende 2023 geschafft ist. „Wir hoffen, dass der finale Text Anfang 2024 in Kraft tritt und Rechtswirkung entfaltet. Was allerdings laut heutigem Gesetzentwurf erst drei Jahre später in Kraft treten soll, das sind die Voraussetzungen für Audits und die Exportbestimmungen“, stellte Julia Blees in Aussicht.

Die Vorträge von Emmanuel Katrakis (Secretary General EuRIC), Andreas Otto (Melosch Export GmbH, Vorstandsmitglied bvse-Fachverband Papierrecycling) und Dr. Thomas Krauthauf (UPM, Vorsitzender des Vorstands der INGEDE e.V.) hatten das „Ende der Abfalleigenschaft von Altpapier“ zum Thema. Gemeinsames Statement: „Wir müssen es endlich hinkriegen, dass Altpapier ein Produkt ist!“ Carlos Reinoso (European Tissue Symposium) hinterfragte, ob Tissue eine Zukunft ohne Altpapier hat, und Prof. Dr.-Ing Samuel Schabel (Leiter Fachgebiet Papierfabrikation und Mechanische Verfahrenstechnik, TU Darmstadt) erörterte mit Andreas Uriel (Vorstandsmitglied bvse-Fachverband Papierrecycling) das Altpapier-Substitutionspotenzial von Gras und anderen alternativen Faserstoffen.

 

 

(Erschienen im EU-Recycling Magazin 05/2023, Seite 12, Foto: Recebin / stock.adobe.com)