Die deutsche Stahlindustrie steht unter Druck. Besonders die wachsenden globalen Überkapazitäten, hohen Energiepreisen und ungleichen Wettbewerbsbedingungen gefährden die Wettbewerbsfähigkeit und das Fortbestehen der Stahlproduktion in Deutschland. Das wurde beim Stahldialog am 6. November in Berlin deutlich.
„Die Stahlindustrie ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Es geht nicht nur um eine Branche, sondern um die Frage, wie wir industrielle Wertschöpfung in Deutschland langfristig sichern können“, erklärte Gunnar Groebler, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl. „Wir müssen uns fragen, ob wir die industrielle Basis des Landes aus eigener Stärke heraus erhalten wollen oder ob wir uns zunehmend von internationalen Importen abhängig machen.“ Nach Berechnungen des EY-Industriebarometers gehen monatlich rund 10.000 Industriearbeitsplätze in Deutschland verloren. Besonders betroffen sind dabei Regionen, die stark industriell geprägt sind. In diesen Gebieten spüren die Menschen eine zunehmende Verunsicherung und Zukunftsangst.
Eine strategische Ressource
Mit 37,2 Millionen Tonnen Jahresproduktion ist Deutschland der führende Stahlproduzent auf dem europäischen Kontinent. Rund 5,5 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt an stahlintensiven Wertschöpfungsketten. Der Werkstoff Stahl ist dabei von zentraler Bedeutung für zahlreiche Schlüsselindustrien wie den Maschinenbau, die Automobilproduktion, den Schienen- und Straßenbau, die Energieversorgung – einschließlich Windkraftanlagen – sowie die Verteidigungsindustrie. „Stahl ist kein Material wie jedes andere. Er ist eine strategische Ressource“, stellte Kerstin Maria Rippel, Hauptgeschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Stahl, fest.
Trotz der Herausforderungen wolle die Stahlindustrie Verantwortung für ihre eigene Zukunft übernehmen. Unternehmen investierten bereits massiv in die Transformation der Branche, etwa durch den Aufbau von Direktreduktionsanlagen, die Umstellung auf grünen Wasserstoff und die Entwicklung CO2-reduzierter Stähle. Groebler unterstrich: „Wir übernehmen Verantwortung – ökologisch, ökonomisch und sozial. Aber Verantwortung braucht ein Gegenüber. Jetzt ist die Politik am Zug.“
Handlungsfelder für die Bundesregierung
Die Wirtschaftsvereinigung Stahl hat in einem Appell an die Bundesregierung vier zentrale Forderungen formuliert, um die Stahlindustrie für die Zukunft zu rüsten:
Fairer Wettbewerb und Schutz vor Marktverzerrungen: Die Stahlindustrie fordert einen robusten Handelsschutz gegen Preisdumping und Überkapazitäten, insbesondere aus Ländern, die intransparent subventionierte Stahlproduktion betreiben. Dies umfasst auch die Schließung bestehender Lücken im CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM), um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.
Wettbewerbsfähige Energiepreise: Die Stahlbranche spricht sich für eine dauerhafte Senkung der Netzentgelte sowie die Fortführung und Vertiefung der Strompreiskompensation aus. Langfristig wird die Einführung eines Industriestrompreises als entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland angesehen.
Beschleunigung des Aufbaus der Wasserstoffwirtschaft: Die Stahlindustrie sieht im Wasserstoff eine Schlüsseltechnologie für die Zukunft. Besonders wichtig seien ein schneller Ausbau eines europäischen Wasserstoffnetzes, die Einführung von Risikobürgschaften für langfristige Verträge und wettbewerbsfähige Preise für Wasserstoff im Produktionshochlauf.
Schließlich fordert die Branche von der Politik, die Nachfrage nach CO2-reduziertem Stahl zu fördern, etwa durch eine Vorbildfunktion bei öffentlichen Beschaffungen. Auch Anreizsysteme, etwa bei der Anrechnung von CO2-reduziertem Stahl auf Flottengrenzwerte, könnten die Nachfrage stärken und den CO2-Footprint von Abnehmerbranchen verringern.
Industriepolitik ist Souveränitätspolitik
Nach Meinung der Wirtschaftsvereinigung Stahl hätte eine fortschreitende Deindustrialisierung Europas nicht nur ökonomische, sondern auch strategische Folgen. „Wenn wir industrielle Wertschöpfung verlieren, verlieren wir auch wirtschaftliche Gestaltungskraft, technologische Führung und schließlich politische Handlungsfähigkeit“, glaubt Groebler. „Es geht nicht nur um den Erhalt von Arbeitsplätzen oder den Schutz vor unlauteren Wettbewerbspraktiken, sondern um die Frage, wie wir unsere wirtschaftliche Zukunft selbst gestalten.“ Die Branche zeigt sich bereit, den Wandel aktiv mitzugestalten. Nötig sei ein entschlossenes Handeln der Bundesregierung, um die industrielle Zukunft Deutschlands zu sichern.
(Erschienen im EU-Recycling Magazin 12/2025, Seite 6, Foto: Stahlwerke Bochum)