Elf Jahre REACH-Verordnung: Keine Blaupause für die Welt

Die EU-Chemikalienverordnung REACH regelt seit Juni 2007 das, was ihr Name besagt: Registrierung, Evaluation, Authorisierung and Restriktion von Chemikalien. Die Umsetzung von Verordnungen macht Mühe und verursacht Kosten. Inwieweit das auch auf REACH zutrifft, wollten Referenten wie Teilnehmer auf dem 9. Fresenius-Anwendertreffen am 20. und 21. November in Dortmund herausfinden.

Schon im Juni 2017 – anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Verordnung – hatte Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie eine Zwischenbilanz zur Umsetzung von REACH gezogen. Er gab zu bedenken, dass das Zulassungsverfahren hohe Kosten und Wettbewerbsnachteile sowie erhebliche Rechts- und Planungsunsicherheiten verursacht und daher effizienter und planbarer ausgestaltet werden sowie Wettbewerbsnachteile vermeiden sollte. Und er schlug unter anderem vor, statt einer Zulassungspflicht eine spezifische Verwendungsbeschränkung einzuführen, das Verfahren durch Zulassung von Kleinmengen einfacher und kostengünstiger zu gestalten, bei den Abständen von Zulassungs-Überprüfungen Investitionszyklen der Unternehmen zu berücksichtigen und für Stoffe, die in Produktion oder Forschung eingesetzt werden, Ausnahmen im Zulassungsverfahren zu genehmigen. Auch seien die Anforderungen durch das komplexe und sich ständig ändernde Sicherheits-Formblatt schwierig umzusetzen.

KMU besonders betroffen

Vor allem – so Romanowski – beträfe die Umsetzung von REACH kleine und mittlere Unternehmen. Beispielsweise würden diese zwar oft keine eigenen Materialien herstellen, seien aber von europäischen Lieferanten sowie Importen aus dem nicht-europäischen Ausland abhängig. Insbesondere bereite ihnen die Umformulierung von Gemischen Schwierigkeiten, wenn ein Stoff nicht mehr geliefert und registriert wird, wenn sich die Einstufung von Inhaltsstoffen ändert oder wenn Anpassungen wegen Beschränkung oder Zulassungspflicht notwendig sind. Ein hoher Aufwand müsste für „regelmäßiges Monitoring von Stoffpriorisierungen, Registry of Intentions, Kandidatenliste, Anhängen XIV und XVII sowie gegebenenfalls die Teilnahme an Konsultationen“ getrieben werden. Und letztlich sei man verpflichtet, die Sicherheitsdatenblätter aufgrund neuer Stoff-Daten oder -Einstufungen auf dem Laufenden zu halten. Daher bräuchten Unternehmen in jedem Fall ein stabiles rechtliches Umfeld.

Das Erzeugnis im Erzeugnis

Dass dies nicht immer gegeben ist, machte auch Kester Lausecker, Qualitätsmanager bei KiK Textilien und Non Food, deutlich. Als Importeur muss sein Unternehmen die notwendigen Informationen nicht nur gewinnen und kommunizieren, sondern sie auch einer profunden Qualitätssicherung unterziehen. Dabei sind jederzeit neue Registrierungen oder Meldungen zu neuen SVHCs (Substances of Very High Concern/besonders besorgniserregende Stoffe) sowie neuen Produkten mit SVHCs möglich.

Für besonders besorgniserregende Stoffe existiert Meldepflicht bei der European Chemical Agency (ECHA), wenn der Stoff auf der Kandidatenliste steht, einen Mindestgewichtsanteil von mindestens 0,1 Prozent besitzt und sich in einem Erzeugnis befindet. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu entschieden, dass ein Erzeugnis auch dann als Erzeugnis definiert wird, wenn es in ein anderes Erzeugnis eingebracht wurde. Damit – betonte Lausecker – bestehe für das kleinste definierbare Erzeugnis innerhalb eines größeren eine Mitteilungspflicht. Nur: Was genau dieses kleinste Erzeugnis in einem Erzeugnis sein soll, sei vom Wissensstand, vom jeweiligen Produkt und bei SVHCs sogar von mehreren Bezugsgrößen abhängig.

Früher sei ein Glasbehälter mit Griff und Deckel (Erzeugnis 1) mit Kerzendocht (Erzeugnis 2) und Kerzenwachs (Stoffgemisch) bei mindestens 0,1 Gramm SVHC für Erzeugnis 1 und mindestens 0,0015 Gramm SVHC in Erzeugnis 2 taxiert worden. Heute werde das gleiche Produkt als neun Erzeugnisse gewertet – Glas mit Aufdruck, Halter, Bügel, zwei Schrauben, zwei Muttern, Docht und Halter –, die einzeln betrachtet werden und beim Docht eine Auslöseschwelle zur REACH-Meldung von 0,0005 Gramm besitzt.

Verschiedene Definitionsmöglichkeiten

Oft würden die Probleme bereits bei der Definition des Begriffs „Erzeugnis“ beginnen. Das konnte Lausecker am Beispiel einer Brotdose verdeutlichen. Liegt in der Dose eine lose Gummidichtung, ist der Fall einfach; es handelt sich um zwei Erzeugnisse. Ist die Dichtung aber fest im Deckel integriert, gibt es verschiedene Interpretationen und Definitionsmöglichkeiten. Die Definition des „kleinsten definierbaren Erzeugnisses“, auf die eine REACH-konforme Erklärung angewiesen ist, sei alles andere als eindeutig. Und ebenso stehe der regulative Wert der gewonnenen Informationen in keinem Fall fest.

Der Gehalt von Blei-Zirkon-Titanat in Piezoelementen habe beispielsweise einen Gehalt von über 0,1 Prozent, aber ein Gewicht in einem Bereich, der eine Notifizierung fast ausschließt und ein Risiko als eher unwahrscheinlich erscheinen lässt. Obwohl Daten teilweise „nicht einmal mehr analytisch realistisch greifbar“ seien, werde hier ein hoher Aufwand bei hohen Kosten betrieben. Die daraus resultierende Forderung nach einer Untergrenze ist deutlich: „Wir brauchen zur Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit, Fairness und Rechtssicherheit einen sinnvollen Abschaltpunkt.“

Nur für fortgeschrittene Länder

Ohnehin sollte der internationale Aspekt der REACH-Registrierung nicht aus dem Blickfeld geraten. Bis Juni 2017 kamen allein 26 Prozent aller in der EU abgeschlossenen Registrierungsdossiers aus Deutschland, erst mit großem Abstand gefolgt vom brexit- und damit ausstiegsgefährdeten Vereinigten Königreich mit zwölf Prozent und Frankreich sowie den Niederlanden mit je neun Prozent. 14 EU-Mitgliedstaaten beteiligten sich bis dato mit weniger als einem Prozent an den 50.000 erfolgten Registrierungen. Oder mit den Worten von Volker J. Soballa (Evonik Industries AG) zu sprechen: Das europäische Registrierungssystem ist „keine Blaupause für die Welt“.

Viele Länder benötigten seiner Meinung nach erst einmal die Grundlagen wie die Einrichtung eines Stoffinventars und müssten zunächst das System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien der Vereinten Nationen (GHS) einführen. Für viele Staaten sei REACH deshalb zu aufwändig: „Nur sehr weit fortgeschrittene Länder können sich mit detaillierten Tools, umfangreicher Risikobewertung und Themen wie Analyse kombinatorischer Effekte oder Wirkung von Endokrinen Disruptoren beschäftigen.“

Lieferketten umstellen

Schon einfache Lieferketten über Grenzen hinweg erweisen sich als Herausforderung für das REACH-Verfahren, wie in Dortmund Thomas Roth von der SCC Scientific Consulting Company anhand von Beispielen verdeutlichen konnte. Seiner Ansicht nach kann es unter anderem durchaus vorkommen, dass ein Produkt außerhalb der EU produziert und in die EU importiert wird. Dabei kann das für die EU zugelassene Produkt Beistoffe enthalten, die REACH-registrierungspflichtig sind.

Somit können Probleme entstehen, wenn die Zusammensetzung des Produkts als Betriebsgeheimnis vertraulich behandelt soll und nicht in der Lieferkette kommuniziert werden darf. Würden die Registrierungsnummern der Beistoffe weitergegeben, könnte dies Rückschlüsse auf deren Substanz erlauben. Für solche Fälle empfiehlt Roth dem Nicht-EU-Hersteller, die Lieferkette umzustellen und eine eigene EU-Niederlassung zu gründen. Die EU-Niederlassung könne dann generische REACH-Compliance-Zertifikate ausstellen, die die Vertraulichkeit der Produktzusammensetzung gewährleisten.

Nutzen für Recycler fraglich

Insgesamt konnten die Experten der Tagung dem Mehraufwand durch REACH aber gute Seiten abgewinnen. Nach Ansicht von Lausecker beispielsweise erlauben die gewonnenen Daten, Synergiemöglichkeiten zwischen Produkten zu finden, gezielter einzukaufen und Qualitäten zu verbessern. Das gesammelte Know-how über die stoffliche Zusammensetzung spart unnötige Analysen oder unterstützt weitere Analysen. Die Daten ermöglichen letztlich Schlussfolgerungen für neue Regelungen und Produkte.

Wären damit an der Schnittstelle von Chemikalien-, Produkt- und Abfallrecht auch SVHCs, die als Meldekriterien in eine Datenbank für Recycler eingegeben werden, theoretisch denkbar? Lausecker hält das aus mehreren Gründen aktuell für eher unwahrscheinlich. So sei es fraglich, ob Stoffe nach Gebrauch, Reparatur oder Umbau noch identifiziert werden können; ob Stoffe während des Recyclings unterschieden und separiert werden können; und ob sich für den Recycler der materielle Abgleich überhaupt finanziell rentiert.

Inwieweit wird das REACH-Registrierungsverfahren flexibel auf die Bedürfnisse der Praxis eingehen können? „Nach zehn Jahren hat sich der Registrierungsstaub gelegt“, formulierte Berater Michael Cleuvers (knoell Germany GmbH). Aber die Zukunft der Chemikalienverordnung sei alles andere als klar. Die Europäische Kommission arbeitet an einer Reihe konkreter Maßnahmen, die Verbraucher, Arbeitnehmer und Umwelt besser schützen sollen. Diese Maßnahmen sollen darauf abzielen, die Qualität der von den Unternehmen eingereichten Registrierungsdossiers zu verbessern‚ das gesamte Zulassungsverfahren zu vereinfachen und gleiche Wettbewerbsbedingungen sowohl für die Unternehmen aus der EU als auch für Nicht-EU-Unternehmen zu gewährleisten.

Die Tagungsunterlagen mit den Skripten aller Vorträge der Tagung können zum Preis von 295 Euro zuzüglich MwSt. bei der Umweltakademie Fresenius unter www.umweltakademie-fresenius.de bezogen werden.

Foto: pixabay

(EU-Recycling 01/2019, Seite 10)