ElektroG durch Open Scope erweitert

Vielleicht größere Abfallmengen – sicherlich mehr Bürokratie.

Die Informations-Technologie findet im Alltag immer mehr Anwendung. Sie macht sogar vor der Einbindung in Textilien und Möbel nicht halt. Die EU-Kommission unterstützt zwar die Erfindung solcher elektronischen Applikationen. Doch sie verschärft auch ab August 2018 mit der Offenen Anwendungsbereich-Regelung (Open Scope) – zum Beispiel im deutschen Elektrogesetz – die Bürokratie für diese Innovationen.

Vor wenigen Wochen brachten Levis und Google die „Commuter Trucker Jacke“ auf den US-Markt. Ins Ärmel-Gewebe der Radfahrer-Jacke ist eine berührungsempfindliche Stelle mit sogenannter Jacquard-Technologie eingelassen. Die in das Textil eingewobenen Fäden enthalten einen Kupferkern, dessen leitfähige Fäden auf Annäherungen reagieren. Durch spezielles Antippen oder Wischen stellt ein knopfgroßes Steuergerät eine Verbindung zum Handy her, wodurch der Jackenträger Anrufe über das Smartphone tätigen oder entgegennehmen, Musik in verschiedenen Lautstärken abspielen oder auf Kontakt-Pings reagieren kann, ohne die Hände vom Fahrradlenker zu nehmen.

Für tragbare, elektronische und intelligente Textilien

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Derartige Entwicklungen unterstützt auch die Europä­ische Union. Finanziert aus ihrem Horizon 2000-Programm, wurden ab Frühjahr 2017 insgesamt zunächst 22 Unternehmungen mit je 50.000 Euro subventioniert und im November 2017 eine zweite Staffel ausgeschrieben. Das Projekt trägt den Kurztitel „Wear Sustain“ und folgt dem Motto „Bekleidungstechniker engagieren sich mit Künstlern für verantwortungsvolle Innovationen“. Die Bewerber sollten Lösungen für tragbare, elektronische und intelligente Textilien für alle möglichen Anwendungsgebiete finden. Die besonderen Anforderungen an die zweite Staffel: Diese Lösungen sollten – im Paket – überzeugend, innovativ, ethisch und nachhaltig sein. Zudem mussten die Projekte zumindest einem Leitmotiv wie Verwendung, Wiederverwendung beziehungsweise Recycling folgen oder für Datensammlung und die Privatsphäre ihrer Prototypen sorgen. Diesen Anforderungen entspricht unter anderem die Mode von Sensewear, die die körperliche Sensibilität ihrer Träger unterstützt. Die Kollektion besteht aus einer aufblasbaren Weste, einer dehnbaren Halskrause, einem kaubaren Halsreif, einem musikalischen Poncho und einem aromatischen Schal, außerdem komplementären Oberteilen und Hosen. Die hauptsächlichen Elemente sind mit einem intelligenten T-Shirt verbunden, das die Vitaldaten ihres Trägers sammelt und Signale an eine Applikation sendet, die die Hauptkleidungsstücke der Kollektion aktiviert: Beispielsweise, indem sich in einer Stresssituation die Jacke automatisch aufbläst, um den Träger zu beruhigen.

Die Entwicklung tragbarer und smarter Kleidung für Yoga- und Pilates-Übungen versprach das Breath!-Projekt aus Italien. Die Kollektion soll Trainierenden helfen, ihren eigenen Körper besser wahrzunehmen. Zu diesem Zweck entwarf und entwickelte das Team ein „intelligentes und umweltfreundliches tragbares Computersystem“ und integrierte es in Kleidungsstücke und Accessoires. Die nahtlose Kleidung sammelt biometrische Daten und verfügt dazu über einen Atemsensor, ein entnehmbares Elektroteil, eine austauschbare Batterie und einen USB-Anschluss zum Wiederaufladen.

Schuhe bis zu zwanzigmal recyceln

Die österreichische KOBA Maßschneiderei definiert sich selbst als „elektronisches Textil-Schneider-Geschäft“, von dem sich jedermann eine tragbare Technologie-Kleidung und Accessoires auf den Leib schneidern lassen kann. Die individuelle, passgerechte Technologie soll der Fantasie der Kunden entspringen und Teil ihres Alltags werden. Anstelle von Langlebigkeit setzen die Projektbetreiber bewusst auf Reparierbarkeit, Manipulierbarkeit und Haltbarkeit über eine angemessene Zeit.

„Ultra-personalisierte“ Schuhe sind das Ziel des italienischen Solemaker-Projekts. Dazu werden der Fuß des Schuhträgers zunächst vermessen und diese Daten in die Entwicklungs-Software eingegeben. In den daraus resultierenden Schuh wird auch ein mobiler Sensor eingearbeitet, um später in periodischen Abständen Benutzung und Bewegung zu erfassen. Hat der Schuh sein Benutzungsende erreicht, wird er zurückgeschickt, sodass Material und Sensor bis zu zwanzigmal recycelt werden können. Auch das in England und Wales registrierte Tinker-Projekt hat mit Fußbekleidung zu tun: Es entwickelt „interaktive intelligente Massage-Schuhe“. Die Technologie dazu wird nahtlos in das Material integriert und über ein Smartphone kontrolliert, gemessen und auf den Träger abgestimmt.

Das Nachleben ist nur wenig erforscht

Für das Wearflex-Projekt eröffnen elektronische Schaltkreise auf flexiblem Trägermaterial ein Spektrum neuer Anwendungsmöglichkeiten für tragbare Technologie, Gesundheitsvorsorge und autonome Systeme. Das Wearflex-Hemd wird aus Polymilchsäure-Fasern hergestellt und verkörpert einen flexiblen Bildschirm, der Benachrichtigungen des Smartphones zeigt. Die elastische Leinwand mit leitfähigen und elektro-luminiszenten Tinten zeigt elektronische Mitteilungen wie zum Beispiel eingehende Anrufe, Nachrichten oder Alarme. Polymilchsäure (PLA) ist ein nachhaltiges, vollständig recycelbares Polymer, das das Wearflex-Hemd ebenfalls nachhaltig macht. Die Macher im Closed Loop Smart Athleisure Fashion Project arbeiten an einem intelligenten Dress, der kontinuierlich die Vitalsignale seines Trägers misst. Und zwar über Sensor-Technologie, die in den flexiblen Untergrund der Textilie integriert wurde. Die laminierten Sensoren sollen gut tragbar, komfortabel, robust, unsichtbar, bis zu 25mal waschbar und unauffällig in konventionelle Modeproduktion einzuarbeiten sein. Laut Kurzbeschreibung fokussiert sich die Kollektion auf das Nachleben der elektronischen Kleidung, ihr Potenzial zur Recycelbarkeit und die Dienstleistungsgeschäfte danach. Allerdings räumen die Projektmitarbeiter ein, dass die Trennung der laminierten Sensortechnologie vom Textil noch erforscht werden muss. Auch wolle man sicherstellen, dass die Kleidung für spätere Verwendung in einem geschlossenen Kreislaufsystem ergiebig ist. „Dieser geschlossene Kreislauf ist ein innovativer Ansatz im Bereich tragbarer Technologie, da es – bis jetzt – nicht allzu viel Forschung über das Nachleben von elek­tronischer Kleidung und potenzieller Recycelbarkeit gibt.“

Unter dem Regime des ElektroG

Wenn die Trennung der Sensortechnologie von den Textilien noch erforscht werden muss, darf man sich die Frage stellen, wieso die Europäische Union als oberster Hüter des Kreislaufwirtschafts-Gedankens Gelder zur Entwicklung von Produkten ausgibt, deren Recycelbarkeit weder abstrakt definiert noch konkret nachprüfbar ist. Unzweifelhaft ist jedoch, dass diese Objekte ab 15. August 2018 als Elektronikgeräte in den Offenen Anwendungsbereich (Open Scope) des Elektrogesetzes fallen: teilweise in die Kategorie „Bildschirme und Monitore“, teilweise als „kleine Geräte der Informations- und Telekommunikationstechnik“. Ihr elektronischer Bestandteil ist – so die Definition – „funktional und/oder baulich an die Nutzungsdauer des Gesamtprodukts gebunden“ beziehungsweise kein „eigenständig zu beurteilendes Elektrogerät“. Anders ausgedrückt: Es käme darauf an, ob Entnahme oder Austausch des elektronischen Bestandteils ohne Zerstörung des Gesamtproduktes möglich ist.

Falls die Textilprodukte potenzielle Elektronikabfälle darstellen, unterliegen sie der Waste Electrical and Electronic Equipment-Direktive (WEEE) beziehungsweise deren deutscher Umsetzung, dem Regime des Elektro- und Elektronikgeräte-Gesetzes (ElektroG). Als Teil der angewandten Produktverantwortung impliziert es für ihre Hersteller und/oder Vertreiber eine Reihe von betrieblichen Pflichten wie Produktkennzeichnung, Registrierung, insolvenzsichere Garantie, Mengenmeldungen, diverse Kosten und Gebühren sowie bestimmte Rücknahmepflichten. Außerdem müssen sie vermutlich den Anforderungen des Funkanlagengesetzes entsprechen.

Für KMU kein Erfolgmodell

Wie problematisch sich die Anwendung der Open Scope-Kriterien auf die Möbelindustrie verhält, wurde auf einem Seminar der take-e-way GmbH und TMK Retail Service & Consulting GmbH deutlich. Eine ganze Reihe von Geräten, die im Mobiliar verbaut oder integriert werden, ist von der neuen Regelung betroffen. Wie Sebastian Siebert (take-e-way) verdeutlichte, zählen dazu beispielsweise Tresore mit elektrischem Schloss, Badschränke mit beleuchtetem Spiegel oder elektronisch verstellbare Fernsehsessel. Selbst Weihnachtsmützen mit blinkenden Sternen oder beleuchtete Kinderschuhe gehören hierzu, da ihr elektr(on)ischer Bestandteil nur mit Mühe oder durch Zerstörung zu entfernen oder auszutauschen ist. Anders verhält es sich bei Schrankwänden mit leicht austauschbarer LED-Leiste oder Fahrrädern mit Naben-Dynamo: Deren elektr(on)ischer Bestandteil wird auch einzeln in Verkehr gebracht. Während der Diskussion der Seminarteilnehmer wurde allerdings auch klar, dass die Zuordnung Interpretationsspielräume offen und damit Rechtsunsicherheiten zulässt. Zudem stellte Thomas Müller-Krusche (Geschäftsführender Gesellschafter der TMK) heraus, dass bei einem Schrank mit festem E-Bauteil der gesamte Schrank als Elektroabfall gilt und als solcher taxiert wird. Das sei wohl kaum im Sinne des Elektrogesetzes und schon gar nicht im Sinne der Hersteller. Ohnehin – pflichtete ihm Sebastian Siebert bei – sei das ElektroG drei Jahre nach seinem Inkrafttreten bürokratisch, intransparent, fehlinterpretierbar, stellenweise unverständlich und teilweise unkalkulierbar. Informationen seien schwierig zu beschaffen und verbindliche Auskünfte kaum zu bekommen; die Kosten würden ungerecht verteilt und unverhältnismäßig hohe Bußgelder erhoben. Kurz: Das Elektrogesetz gewährleiste lediglich eine gute Umsetzung für die Konzerne der Elektroindustrie, sei aber „für kleine und mittlere Unternehmen kein Erfolgsmodell“. Ob es – wie beabsichtigt – zu einer höheren Recyclingquote führen wird, ist nicht abzusehen.

Foto: pixabay

(EU-Recycling 04/2018, Seite 6)