Munitionsaltlasten: Start für die Entsorgung mit 100 Millionen Euro
Ende August 2024 fiel der Startschuss zum Vergabeverfahren im „Sofortprogramm Munitionsaltlasten“ durch das Bundesumweltministerium. Das Ziel sollen Entwicklung und Bau einer entsprechenden Industrieanlage zur Entsorgung sein.
Es gilt als gesichert, dass bis zu 1,6 Millionen Tonnen an konventioneller Munition in deutschen Gewässern der Nord- und Ostsee dümpeln. Hinzu kommen laut Bundesumweltministerium (BMUV) zwischen 212.000 bis 235.000 Tonnen an chemischen Kampfstoffen; der NABU spricht sogar von bis zu 300.000 Tonnen an Chemikalien wie Senfgas und dem Nervenkampfstoff Tabun. Laut Darstellung des Fraunhofer Instituts besteht das Waffenarsenal am Meeresboden aus Seeminen, Sprengbomben, Brandbomben und Torpedos bis hin zu Giftgasgranaten. Außerdem verwendete man am Ende des Zweiten Weltkrieges alle noch verfügbaren Materialien zur Herstellung neuer Munition, sodass die chemische Zusammensetzung des jeweiligen Kampfmittels als unsicher gelten muss.
Lagerstätten meist unbekannt
Hinzu kommt, die Ablagerstätten der am Ende des Zweiten Weltkriegs verklappten Munition vielfach unbekannt sind. Denn zum einen sollten auf Anweisung der Alliierten, Fischer die explosive Fracht in ausgewiesenen Gebieten weit draußen auf See versenken, was sie aber – um Treibstoff zu sparen – teilweise schon wesentlich früher taten. Zum anderen führten starke Strömungen und die Grundschleppfischerei zur Umlagerung von Minen, Torpedos und Bomben, sodass vorhandene Angaben im Laufe der Zeit an Verlässlichkeit verlieren. Die Räumung dieser Kriegslasten – stellte die Fraunhofer-Gesellschaft in einer im August 2018 erschienenen Presseerklärung dar – sei bislang „nur in gefährlicher Handarbeit durch Taucher der Kampfmittelräumdienste oder spezialisierter Firmen möglich“. Große Bomben könnten nicht geborgen werden und würden schon durch eine Druckveränderung explodieren.
Eine „tickende Zeitbombe“
Im Mai 2018 kommentierte der in Österreich erscheinende „Der Standard“, dass sich angesichts der deutschen Aktivitäten die Bezeichnung „tickende Zeitbombe“ anbieten würde, zumal die ökologischen Auswirkungen der Kriegsrelikte „weitgehend unbekannt“ seien und man sich „bisher schlicht und einfach nicht darum gekümmert“ habe. Immerhin erforschte ab März 2016 das Projekt „Umweltmonitoring für die DElaboration von Munition im Meer“, kurz UDEMM, vier wichtige Fragen im Zusammenhang mit „Munition im Meer“: Dazu gehörten die Munitions- und Sedimentkartierung, die Modellierung der küstennahen Strömung, die Ausbreitung konventioneller Munitionsschadstoffe sowie Untersuchungen zur Beeinträchtigung des Ökosystems. Finanziert wurde das Projekt in Höhe von 1,6 Millionen Euro mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie aus dem Sonderprogramm FONA. UDEMM wurde im August 2019 „erfolgreich“ abgeschlossen; eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse ist unter https://udemm.geomar.de/munitionsarten zu finden.
In drei Phasen: RoBEMM
Im August 2018 gab Fraunhofer den Start eines „Robotischen Unterwasser-Bergungs- und Entsorgungsverfahren inklusive Technik zur Delaboration von Munition im Meer“, kurz RoBEMM, bekannt. Drei Jahre vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert, sollte es langfristiges Ziel des Projekts sein, die Munition an Ort und Stelle – also unter Wasser – „unschädlich zu machen und umweltgerecht zu entsorgen“. Die Koordination von Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie sowie der Universität Leipzig und mehrerer Industriepartner oblag dem Kampfmittelräumungs-Unternehmen Heinrich Hirdes EOD Services GmbH. Wie genau der Einsatz des RoBEMM zu erfolgen hat, wurde im Dezember 2018 auf der Statustagung „Maritime Technologien“ und in einem Artikel der online-Publikation Research Gate vorgestellt. Die Beseitigung von Offshore-Kampfmitteln – so die damalige Ansicht – sollte aus drei Phasen bestehen: einer Sondierung beziehungsweise Erkundung, einer Untersuchung der Verdachtsmomente und schließlich der „Vor-Ort-Beseitigung durch Sprengung mit Vorablegung eines Blasenschleiers oder die Bergung mit Abtransport der Kampfmittel zur GEKA“. Unter GEKA firmiert die Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten in Munster, eine 100-prozentige Tochter des Verteidigungsministeriums.
Finanzierung noch zu klären
Im folgenden Jahr – also 2019 – beschloss die Umweltministerkonferenz, die Daten- und Informationslage zur Gefährdung der Meeresumwelt durch Munitionsaltlasten zu verbessern und auf dieser Grundlage über die Notwendigkeit und Eignung von Maßnahmen, einschließlich Bergung und Entsorgung, zu beschließen; begonnen werden sollte mit der Erkundung in der Ostsee. Allerdings blieb noch ungeklärt, ob „eine schwimmende mobile Entsorgungsanlage für die Vernichtung von Munitionsaltlasten gebaut werden sollte“.
Dazu müsse der im RoBEMM-Projekt entworfene Prototyp „einer unbemannten, videogesteuerten Sammelvorrichtung für Munition“ im Meer getestet werden. Und: „Die Finanzierung all dieser Maßnahmen ist noch zu klären.“ Mittel aus naturschutzrechtlichen Kompensationen zur Finanzierung der Räumung von Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee standen jedenfalls nicht zur Verfügung. Im April 2020 gab das BMUV zu verstehen, „dass selbst bei Einsatz auch zukünftig anfallender Kompensationsgelder nur ein minimaler Bruchteil der insgesamt notwendigen Bergungskosten abgedeckt werden könnte und sich daraus auch kein messbarer Nutzen für den Naturschutz ergäbe“.
GeKa nicht ansatzweise vorbereitet
Im Februar 2021 beantragten die Fraktionen FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Munitionsaltlasten in den Meeren zu bergen und umweltverträglich zu vernichten. Denn „die von den verrostenden Kampfmitteln ausgehende Umweltgefahr und die bei Unterwassersprengungen freigesetzten Schadstoffe im Wasser spielten bei der Kampfmittelräumung bisher nur eine untergeordnete Rolle.“
Neben engmaschiger Kartierung und Monitoring der Altlasten müssten auch die Entsorgungs- und Verbrennungskapazitäten zwingend ausgebaut werden; die bisherige Infrastruktur der Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten (GeKa) sei „trotz seit Jahrzehnten bekannter Bedarfslage nicht ansatzweise für die vollständige Vernichtung der großen Mengen an Munitionsaltlasten aus den deutschen Meeresgebieten vorbereitet“. In der öffentlichen Sitzung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit am 17. Mai 2021 wurde auch für den Aufbau eines Kompetenzzentrums Munition im Meer und „die Einrichtung eines mit mindestens 100 Millionen Euro ausgestatteten Finanzierungsfonds“ plädiert.
Unbemannt mit Robotertechnik
Im November 2022 – nachdem der Vorschlag der Union auf Bereitstellung von 102 Millionen Euro zunächst abgelehnt und dann von den Ampel-Fraktionen im Haushaltsausschuss des Bundestages angenommen wurde – standen endlich die Gelder für ein „Sofortprogramm Munitionsaltlasten“ zur Verfügung. Die Mittel waren dafür vorgesehen, eine unbemannte Plattform mit Robotertechnik zur Bergung von Altlasten zur „sicheren, effizienten und umweltgerechten Bergung und Entsorgung von Munitionsaltlasten in exemplarischen Munitionsversenkungsgebieten in der Ostsee“ zu konstruieren.
Bei Null musste nicht begonnen werden, denn es sollten „zuvorderst erprobte Technologien“ der Meerestechnik, der Prozess- und Verfahrenstechnik, der Kampfmittelbeseitigung sowie in den letzten Jahren entwickelte Lösungsansätze mit einem hohen technologischen Reifegrad in Betracht kommen. Darüber hinaus standen Informationen aus anderen Quellen zur Verfügung:
Erfahrungen von „North Sea Wrecks“
Schon im April 2023 sollten zur „Entwicklung eines Gesamtsystemkonzepts“ neben dem Seascape Projektteam auch Projassment, Werth Ingenieurgesellschaft, Seacotec und Fraunhofer ICT und etliche andere Ansprechpartner zur Unterstützung hinzugezogen werden. Um „geeignete Lokationen für Testbergungen in Munitionsversenkungsgebieten“ zu identifizieren, wurde das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel aktiv.
Darüber hinaus standen auch die Erfahrungen des EU-geförderten Forschungsprojekt „North Sea Wrecks“ zur Verfügung, die das Forschungsschiff „Heincke“ ab April 2021 mit einem europäischen Team unter Beteiligung des Deutschen Schifffahrtsmuseums, des Leibniz-Institut für Maritime Geschichte und des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) zu Schifffahrtshindernissen und Giftstoffquellen gesammelt hatte. Der Problematik von verklappter Munition, Kriegswracks und der daraus resultierenden Umweltverschmutzung in der Nordsee wurde wissenschaftlich, politisch und historisch auf den Grund gegangen.
Vorab 23 Millionen Euro investiert
Wichtige Ergebnisse zu UXO, Unexploded Ordnance oder nicht explodierter Munition – also Blindgängern – trug auch die niederländische Firma Boskalis bei, eine weltweit agierende Firma mit langjähriger Erfahrung in den Bereichen Wasserbau, Küstenschutz und Landgewinnung. Wie das online-Magazin „Marine Forum“ berichtete, spürte das Unternehmen bei Vorarbeiten für einen Offshore-Windpark in der Ostsee per Spezialschiff, ferngesteuertem Tauchroboter und Tauchern potenzielle Blindgänger auf, untersuchte sie und beseitigte sie gegebenenfalls. Insgesamt wurden so 770 Objekte untersucht und als meist harmlos eingestuft, aber auch 25 Blindgänger sicher geborgen und den deutschen Behörden zur kontrollierten Vernichtung an Land übergeben.
Außerdem bilanzierte im Mai 2024 das Bundesumweltministerium die in den letzten 20 Jahren diesbezüglich vorgenommenen Investitionen auf bereits „ca. 23 Mio. Euro vor allem in Forschung zu Detektion, Anlegen eines Katasters, Technikentwicklung und Monitoring zu Altmunition im Meer“. Und schließlich musste das BMUV einräumen, dass viele der genutzten Technologien zur Aufbereitung und Entsorgung von Munitionsaltlasten, wie zum Beispiel Verbrennungs- und Sprengöfen, bereits heute an Land im Einsatz sind. Sie würden erstmals ermöglichen, Altlasten automatisiert aufzuspüren, zu bergen und zu entsorgen. Es gelte diese Arbeiten nun aber auch unter erschwerten Bedingungen auf See sicher zu betreiben.
Seit über 70 Jahren im Wasser
Die anstehenden Aufgaben sind allerdings keineswegs ungefährlich, warnt das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Ein großer Teil der Altmunition liegt seit über 70 Jahren im Wasser, wodurch viele Metallgehäuse oder Munitionshüllen mittlerweile starke Korrosion zeigen. Durch Beschädigungen kann der Sprengstoff im Inneren freiliegen und Chemikalien an das umgebende Wasser abgeben haben. Explosive Verbindungen sind der Darstellung nach nur schlecht in Wasser löslich, enthalten aber giftige und krebserregende Chemikalien. Diese könnten von Fischen und Muscheln aufgenommen werden und so in den Nahrungskreislauf gelangen. Allerdings besteht die Gefahr von spontanen Explosionen, da die Zünder zum Beispiel von Seeminen und Fliegerbomben-Blindgängern mit der Zeit immer empfindlicher werden.
Keine gezielten Sprengungen
Von gezielten Sprengungen rät das Umweltministerium jedoch ab: Erstens werde bei der Explosion die Umwelt belastender Sprengstoff ins Wasser freigesetzt und zweitens Meeresbewohner durch die Druckwellen einer Explosion gestört, beeinträchtigt oder sogar getötet. Wie aufwändig aber gezielte Maßnahmen zur Entsorgung von Munitionsaltlasten selbst an Land sind, macht folgende Darstellung deutlich: Die Unschädlichmachung von Giftgas aus dem syrischen Chemiewaffen-Arsenal bestand laut dem Munsteraner Entsorger GEKA beispielsweise aus einer Hydrolyse mit heißem Wasser, der Neutralisierung der Salzsäure mithilfe von Natronlauge und der Verbrennung des Hydrolysats zur Vernichtung aller organischen Bestandteile. Zurück blieben ungefährliche Salze, die in einer Deponie entsorgt wurden; Metalle wurden gesammelt.
Weltweit Neuland betreten?
Es ist Ansichtssache, ob – wie Bundesumweltministerin Steffie Lemke im September 2023 gegenüber dem NDR äußerte – mit dem bisher angeschobenen Maßnahmen tatsächlich „weltweit Neuland betreten“ wurde. Es ist zu wünschen, dass Lemkes Planung, zu Beginn des Jahres 2025 tatsächlich Munition zu bergen und zu entsorgen, realisiert wird. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass die Befürchtungen eintreffen, dass die zur Verfügung stehenden Gelder nicht ausreichen werden.
(Erschienen im EU-Recycling Magazin 12/2024, Seite 26, Foto: Christian Wittmann / pixabay.com)