Stillgelegte Bohrplattformen: Sekundärmaterialien in spe?
Die Zeit der Ölbohrungen in der Nordsee hat ihren Zenit überschritten. Auch aufgrund anderer Ölquellen wartet eine Reihe von Förderinseln und anderem Equipment auf die Stilllegung. Können die dadurch anfallenden Materialien als Sekundärrohstoffe problemlos rückgewonnen werden? Dagegen spricht einiges.
Neben festen Bohrplattformen, deren Stahl- oder Beton-Stelzen an Meeresboden verankert sind, existiert eine Reihe von „mobilen Bohr-Einheiten auf offener See“ (mobile offshore drilling units, kurz: MODUs). Dazu zählen autonom bewegliche Hubbohrinseln und Bohrschiffe für Erkundungszwecke, permanent schwimmende und stabil verankerte „halb-tauchfähige“ Plattformen zur Ölgewinnung und Bohrbargen, einsetzbar im flachen Wasser. Hinzu kommen unter anderem Schiffe, die bei Offshore-Gewinnung durch Bohrplattformen zur Förderung, Lagerung und Verladung von Erdöl und Erdgas Verwendung finden (FPSOs/FSOs), Plattformen für die Unterkunft des Personals und offshore-Schiffe zur Versorgung, zum Lastenheben oder zur Quellenstimulierung.
Kalte oder warme Stapelung
Werden all diese Einrichtungen nicht mehr benötigt, können sie „kalt“ oder „warm“ zwischengelagert werden. Die kalte, zeitweilige sogenannte „Stapelung“ sieht die vorübergehende Stilllegung vor, bei der die Mannschaften unbeschäftigt bleibt, der Betrieb nicht mehr aufrechterhalten wird und keine regelmäßigen Inspektionen mehr stattfinden; dieses sogenannte „cold stacking“ wirft Kosten von 15.000 US-Dollar pro Tag auf. Bei der „warmen Stapelung“ bleibt die Bohreinheit auf Abruf, ist zwar im Leerlauf, aber jederzeit für neue Aufgaben einsatzbereit. Geschätzte Kosten: bis zu 50.000 US-Dollar täglich.
Momentan sind 59 schwimmende Bohrinseln in der Nordsee im Einsatz, von denen 18 vor 2001 in Betrieb gingen und als Oldtimer oder Veteranen gelten, da dieses Jahr als Grenze zwischen der alten und der neuen Generation von technisch verbessertem Equipment gesehen wird. Im Juli 2019 zählten 14 Einrichtungen zu den warm gestapelten, wovon zwei vor 2001 konstruierte Plattformen als erste Kandidaten für eine Stilllegung in Frage kommen. Das trifft umso mehr für die 19 Einheiten zu, die in der Nordsee kalt gestapelt werden und von denen 15 älter als 18 Jahre sind. Außerdem kommen weltweit viele Neukonstruktionen auf den Markt, die hinsichtlich Digitalisierung, Energieeffizienz und Sicherheit die älteren Objekte überholen, zumal für die tiefen Wasser und die extremen Bedingungen der Nordsee spezialisiertere und fortgeschrittenere Ausrüstungen notwendig sind. Eine Reaktivierung der kalt gestapelten Bohranlagen vor Norwegen und dem Vereinigten Königreich erscheint unter diesen Umständen wenig wahrscheinlich.
Kandidaten für eine baldige Demontage
Darüber hinaus kommt die Gesamtproduktion der Nordsee an ihre Grenzen, wobei insbesondere der Bereich des Vereinigten Königreichs langfristig im Niedergang begriffen ist. Währenddessen erweisen sich die Ölfelder in Norwegen als weniger ergiebig und erreichen trotz verbesserter Gewinnungstechniken vielfach das Ende ihrer kommerziellen Phase. Auch benötigt der gegenwärtige Bedarf an MODUs in erster Linie für kleinere Projekte mit kurzzeitigen Vertragsdauern kleinerer Gesellschaften: Alte kalt gestapelten Bohreinrichtungen sind demgegenüber nicht mehr wettbewerbsfähig, da die Reaktivierungskosten hierbei kaum eingespielt werden können. Unterliegen die Gerätschaften auch noch einer anstehenden Speziellen Regelmäßigen Sicherheitsprüfung (Special Periodic Survey), sind sie – nicht zuletzt aus Kostengründen – ebenso Kandidaten für eine baldige Demontage.
Nicht nur durch OSPAR reguliert
Ein solches Ausschlachten fixierter Bohreinrichtungen kann teilweise an Ort und Stelle erfolgen, wobei die separierten Teile zum nächsten Schrottplatz transportiert und dort weiterbehandelt werden. Den Zerlegungsprozess solcher Einheiten reguliert umfassend und eindeutig die Konvention zum Schutz der maritimen Umwelt des Nord-Ost-Atlantiks (kurz: OSPAR), zu deren Unterzeichnern die Öl- und Gas-produzierenden Länder Dänemark, Niederlande, Norwegen und das Vereinigte Königreich gehören. Per Konvention sind die mit dem Öl- und Gas-Geschäft dort befassten Unternehmen und Behörden verantwortlich für die sichere und umweltschonende Demontage. Die zahlreichen schwimmenden Plattformen fallen nicht unter die OSPAR-Richtlinien; sie besitzen aber wie andere Schiffe eine IMO-Nummer – eine unverwechselbare Kennung durch die Internationale Maritim-Organisation – und unterliegen damit den gleichen Regeln für Zerlegung und Recycling.
Als weitere Vorgaben greifen die Auflagen der Baseler Konvention, die Europäische Abfallverbringungsverordnung, die Hong Kong-Konvention sowie die Europäischen Schiffrecycling-Regularien. Die Baseler Konvention kann jedoch durch falsche Reparatur-statt-Demontage-Angaben umgangen werden, während die Hong Kong-Regelung wegen fehlender Umsetzungsstandards und durch Wechsel eines Abwrackschiffs zu einer Billigflagge wenig wirkungsvoll ist. Letzteres ist auch ein Hindernis für die Umsetzung der EU-Schiffsrecycling-Regularien, indem Barkäufer (cash buyers) die Verschrottungsobjekte unter Gefälligkeits- oder Schattenflaggen (englisch: „flag of convenience“) wie die von St. Kitts, Nevis, Palau and Comoros laufen lassen. Die Schwierigkeiten, die Abfallverbringungsverordnung umzusetzen, haben zu etlichen Versuchen illegaler Verschiffungen und einigen Strafverfolgungen illegaler Exporte geführt. So setzte beispielsweise 2018 die Schottische Umweltschutzbehörde SEPA die drei MODUs Ocean Nomad, Ocean Princess und Ocean Vanguard wegen des Verdachts einer ungesetzlichen Ausfuhr nach Asien fest.
Schleppen oder Huckepack
Darüber hinaus bestehen spezifische Risiken, die bei der Demontage von Einrichtungen zur Öl- und Gas-Gewinnung entstehen können. Auch wenn halb-tauchfähige Plattformen und Hubinseln mobil sind, können sie nur mit fremder Hilfe ein Abwrackdock erreichen. Um die schweren und schwer zu manövrierenden Gestelle zu bewegen, müssen sie geschleppt oder auf Hubschiffe gehoben werden. Das Schleppen kann bei heftigem Wetter zu Navigationsschwierigkeiten oder zum Taubruch führen; dafür ist das Huckepack-Verfahren kostspieliger. Beide Transportmöglichkeiten sind aufwändig, verbrauchen enorme Mengen an Kraftstoff, und die Versicherungssummen können sich bis zu einer Million US-Dollar belaufen. Außerdem scheint der Weg nach Südasien zu weit zu sein: Von 121 halb-tauchfähigen Plattformen und Hubinseln, die im Laufe der letzten vier Jahren verschrottet wurden, landeten nur 37 auf den südasiatischen Stränden.
Das könnte sich angesichts einer zunehmenden Nachfrage nach schweren Hubschiffen ändern: Wird die Verbringung der genannten Bohrplattformen billiger, werden ihre Eigner vermehrt für Südasien optieren. Für Equipment, das konventionellen Schiffen ähnlicher ist, gilt das bereits jetzt: In den letzten vier Jahren strandeten von insgesamt 46 Bohrschiffen und FPSOs sowie FSOs 33 in Südasien. Ohnehin verfügen Barkäufer – folgt man der Darstellung der NGO Shipbreaking Platform – als mehr oder weniger exklusive Wiederverkäufer über enge Wirtschaftsbeziehungen zu den Schiffsfriedhöfen in Bangladesch, Indien und Pakistan. Die höheren Preise, die sie für Schrottschiffe zahlen, sind ein deutliches Indiz dafür, dass sie die Objekte in Südasien billiger entsorgen können.
Abwracken in Südasien und Türkei
Der Demontagemarkt für Öl- und Gas-Bohreinrichtungen wird von einer kleinen Zahl von Ländern beherrscht. Hauptsächlich sind es Südasien und die Türkei, die in den letzten vier Jahren rund 79 Prozent aller Schiffsabwrackungen vollzogen haben. Von den 185 Anlagen zur maritimen Öl- und Gas-Gewinnung, die seit 2015 weltweit verschrottet wurden, endeten 79 an den Stränden Südasiens – Schlepper und Sicherheitsbehälter im Stand-by-Betrieb nicht mitgerechnet. Die Türkei ist der Hauptabnehmer für schwimmende Bohreinheiten aus der Nordsee. Drei Abwrackwerften im türkischen Aliaga gehören zu den Anlagen, die in die EU-Liste der anerkannten Schiffsrecycling-Einrichtungen aufgenommen wurden, während am Strand der indischen Küstenstadt Alang, auf dem auf zehn Kilometern jährlich hunderte von Schiffen zerlegt werden, zwei Werkstätten von der EU auditiert und als den Regularien nicht entsprechend eingestuft wurden. Chinas Politik der Rohstoffimporte sieht übrigens seit 2019 vor, die Einfuhr ausländischer Schiffe für Recyclingzwecke zu unterbinden.
Während rund 20 Prozent der in der Nordsee momentan aktiven Bohrplattformen unter europäischer Flagge laufen, sind nur eine kalt gestapelte und drei warm gestapelte Einrichtungen in einer EU-Nation registriert. Sie unterliegen damit den EU-Schiffsrecycling-Regularien. Die übrigen 29 Plattformen laufen zwar unter den Flaggen von Bahamas, Panama und den Marshall Inseln. Doch 18 sind in Norwegen, neun in den Vereinigten Staaten und zwei in den Niederlanden gestapelt und fallen damit auch unter das Regime der Schiffsrecycling-Regularien. Demnächst steht – einer Auflistung der NGO Shipbreaking Platform und Bassoe Offshore zufolge – für 25 offshore-Bohreinrichtungen die kalte und für 13 die warme Stapelung an, da sie früher als 2001 konstruiert wurden.
Eine klare Verfahrensweise festlegen
Die Vorteile einer Abwrackung in den Nordsee-Schiffsdocks liegen unter anderem in kurzen Transportwegen, vorhandenen Expertisen für das Recycling, hohen Recyclingraten, umweltfreundlicher Entsorgung von belasteten Abfällen sowie der Schaffung „grüner“ Arbeitsplätze. Daran sollten insbesondere die Teilnehmer der OSPAR-Konvention ein gesteigertes Interesse besitzen, wie der deutsche Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth auf einer Sondersitzung der OSPAR Mitte Oktober in London betonte: „Wir haben jetzt die Chance, für die Zukunft eine klare Verfahrensweise für die umweltverträgliche Entsorgung alter Ölplattformen festzulegen. Gerade in Zeiten, in denen wir Schritt für Schritt den Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle vornehmen, müssen wir uns einen sicheren und umwelt- wie klimaverträglichen Umgang mit den Hinterlassenschaften dieser Energieträger aneignen.“ Dazu gehört die von Deutschland und inzwischen von zahlreichen weiteren Staaten sowie der EU-Kommission befürwortete Praxis, ausgediente Ölplattformen grundsätzlich – so weit wie technisch möglich – rückzubauen und sämtliche darin enthaltene Rohölmengen vollständig zu entfernen. Dies soll auch für Plattformen gelten, bei denen ein Rückbau konstruktionbedingt derzeit technisch besonders schwierig erscheint. Laut OSPAR-Regularien müssen Ölplattformen, die nach 1998 errichtet wurden, ohnehin grundsätzlich vollständig rückgebaut werden.
11.000 Tonnen Rohöl belassen?
Dennoch hatte – das war der Hauptgrund der OSPAR-Sondersitzung – das Vereinigte Königreich ursprünglich beabsichtigt, die Pläne des niederländischen Unternehmens Shell zu genehmigen, vier Öl-Plattformen im sogenannten Brent-Ölfeld in der nördlichen Nordsee zu belassen. Nach den Plänen von Shell sollten die Tragekonstruktionen der Schwerkraftfundament-Plattformen Brent Bravo, Charlie und Delta und die Sockel der Stahlgerüst-Plattform Brent Alpha in der Nordsee zurückgelassen werden – inklusive 62 großvolumiger Betonbehälter mit circa 640.000 Kubikmetern ölhaltigem Wasser und circa 41.000 Kubikmetern Öl-Sandgemische, die laut Shell-Schätzungen einer Gesamtmenge von etwa 11.000 Tonnen Rohöl entsprechen. Unterstützt von Belgien, der EU, den Niederlanden und Schweden unterstrich Deutschland, dass auch der saubere Rückbau älterer Ölplattformen grundsätzlich technisch möglich sei, was durch ein jeweils eigenes unabhängiges Gutachten aus Deutschland und den Niederlanden bekräftigt wurde, die den Rückbau der Ölplattformen vollumfänglich empfehlen. Großbritannien hat sich nun bereit erklärt, seine Entscheidung über Rückbau oder Verbleib der Ölplattformen zu überdenken.
Es scheint noch nicht bei allen Politikern oder Schiffseignern die Einsicht eingekehrt zu sein, dass ein professioneller Rückbau von Bohrplattformen oder ähnlichen Einrichtungen nicht nur der maritimen Umwelt dient, sondern auch Rohstoffe schont und Arbeitsplätze schafft.
(EU-Recycling 12/2019, Seite 30, Foto: C Morrison / Pixabay)