Altpapier in Europa: Enorme Unsicherheiten

Die Folgen der Coronavirus-Pandemie für den Altpapiermarkt sind schon jetzt drastisch. Wie sich die Situation in den kommenden Wochen weiter entwickelt, ist offen.

Die weltweite Ausbreitung von Covid-19 sowie die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus in den Ländern haben den europäischen Altpapiermarkt in einer ohnehin schwierigen Situation getroffen. Im Dezember 2019 hatte EuRIC, der Europäische Bund der Recyclingindustrien, in einem Positionspapier auf die – im Vergleich zum August vergangenen Jahres – weiter verschlechterte Lage aufmerksam gemacht. Zum Jahresende ließ nicht nur die Nachfrage der Altpapier einsetzenden Papierindustrie in Europa „periodisch“ nach. Hinzu kam, dass nach wie vor bestehende Handelsbeschränkungen auf internationaler Ebene den Abfluss der überschüssigen Tonnage im Umfang von rund acht Millionen Tonnen an erfasstem Altpapier verhindern. Nach der Statistik beträgt die jährlich in Europa gesammelte Altpapiermenge etwa 56 Millionen Tonnen, während die Papierfabriken in Europa Jahr für Jahr ungefähr 48 Millionen Tonnen dieses sekundären Rohstoffs einsetzen. Der Altpapier-Überfluss in Europa drückt auf die Preise, die unter anderem dazu dienen, die getrennte Sammlung und Aufbereitung des Altpapiers zu finanzieren.

Die Situation im Februar
Im Februar dieses Jahres meldete der Branchenverband der europäischen Papierindustrie Cepi (Confederation of European Paper Industries), dass – nach den vorläufigen Zahlen – die Papierfabriken in den 18 „Cepi-Ländern“*) im Jahr 2019 insgesamt 89,5 Millionen Tonnen Papier erzeugt hatten, drei Prozent weniger als im Vorjahr. Der Anteil an Verpackungspapieren stieg – im Vergleich zu 2018 (52,5 Prozent) – auf 54,1 Prozent, während die grafischen Papiere auf 32,8 Prozent abnahmen (2018: 34,9 Prozent) und Hygienepapiere gegenüber dem Vorjahr um ein Prozent auf einen Anteil von 8,5 Prozent zulegten. Im gleichen Zeitraum sank der Verbrauch an Papier und Karton in den „Cepi-Ländern“ um rund vier Prozent gegenüber 2018. Den Angaben zufolge wurde dieser Rückgang durch die nachlassende Wirtschaftsentwicklung sowohl in Europa als auch in anderen Regionen der Welt verursacht.

Diese Entwicklung setzte sich 2020 fort. So produzierte beispielsweise die deutsche Papierindustrie nach der Statistik des Verbands Deutscher Papierfabriken (VDP) im Januar und Februar dieses Jahres insgesamt 3,652 Millionen Tonnen Papier, Karton und Pappe (2019: 3,678 Millionen Tonnen). Nach wie vor wichtigster Rohstoff war Altpapier, wobei die eingesetzte Menge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2,882 Millionen Tonnen) um 2,9 Prozent auf 2,799 Millionen Tonnen leicht sank.

Zur selben Zeit drückten die Altpapier-Überkapazitäten auf die ohnehin schwachen Preise, denn nach Weihnachten waren die Sammelmengen gestiegen und auch die Papierindustrie hatte ihre Lager gefüllt. Gleichzeitig blieben die Möglichkeiten für den Altpapierexport weiterhin eingeschränkt.

Foto: O. Kürth

Die Situation im März
Die Coronavirus-Pandemie hat die geschilderte Situation umgekehrt, denn das Material, das vorher im Überfluss vorhanden war, wurde aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Krise knapp. Um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, hatten die Regierungen der europäischen Länder – in unterschiedlichem Ausmaß – unter anderem Ausgangs- und Reisebeschränkungen, Geschäftsschließungen und Produktionsstopps verhängt. Dieser „Lockdown“-Modus – aber auch die in der Regel zwei Wochen dauernde Quarantäne von Personen, die sich infizierten oder eine Infektion befürchteten – führte unter anderem dazu, dass Wertstoffhöfe schlossen und auch die sonst üblichen Anfallstellen wie Fabriken und Großmärkte kein Altpapier mehr liefern konnten. Außerdem war die Logistik beeinträchtigt, da Importe durch Grenzschließungen, Lkw-Rückstaus an den Grenzen oder Ausfall von Mitarbeitern bei Logistikdienstleistern kaum noch stattfanden.

In Deutschland meldete sich der bvse-Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung am 23. März zu Wort und reagierte damit auf die gesunkenen Sammelmengen im Land, dass der Rohstoffbedarf der Papierindustrie „sehr hoch“ sei, vor allem bei Herstellern von Hygienepapieren und Verpackungen. „Wir müssen alles daran setzen, die Altpapiersammelstruktur in Deutschland aufrecht zu erhalten“, wurde bvse-Geschäftsführer Thomas Braun zitiert. Die aktuellen Probleme durch Covid-19 und das niedrige Vergütungsniveau für Altpapier dürften keinesfalls dazu führen, die kommunale Altpapiererfassung zurückzufahren. Es komme jetzt darauf an, die bestehenden privaten und kommunalen Sammlungen für Altpapier konsequent und regelmäßig durchzuführen und damit ernste Konsequenzen in der Lieferkette zu vermeiden. Wenn kommunale Unternehmen personelle Engpässe hätten, stehe die private Altpapierwirtschaft bereit, ihre kommunalen Kollegen in dieser außergewöhnlichen Situation zu unterstützen.

Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU), der rund 1.500 Stadtwerke und kommunalwirtschaftliche Unternehmen in Deutschland vertritt, unterstrich einige Tage später, dass die Abfälle – auch die Wertstofffraktionen – weiterhin so entsorgt würden wie vom Bürger bereitgestellt. Ausnahmen von der getrennten Sammlung machten die Kommunen nur dann, wenn pandemiebedingt Personalressourcen fehlten oder um das eigene Personal – zum Beispiel auf Wertstoffhöfen – vor Infektionen zu schützen und das Abstandsgebot zu wahren.

In Großbritannien zeigte sich der Recyclingverband The Recycling Association ebenfalls beunruhigt, berichtete der „Guardian“ Ende März, weil immer mehr Kommunen die Wertstoffsammlungen einstellten. Den Angaben zufolge rechnete der Verband mit einer Altpapier-Verknappung im Hinblick auf die Herstellung von Verpackungen für Lebensmittel und pharmazeutische Produkte. Deutschland, der größte Markt in Europa, beziehe erhebliche Mengen an Fasern aus Polen, aber die deutsch-polnische Grenze sei geschlossen und Material werde jetzt in Großbritannien und Frankreich gesucht.

Auch in Frankreich gab es Probleme, zumal Sortieranlagen ebenso wie Papierfabriken die Betriebstätigkeit einstellten, wie Medienberichten zu entnehmen war. In Italien wurden „nicht lebensnotwendige“ Betriebe geschlossen. Nicht anders sah die Situation in den Niederlanden aus, wo etliche Gemeinden die Altpapiererfassung gestoppt hatten. Am 18. März riefen die nationalen Branchenverbände VNP (Koninklijke Vereniging van Nederlandse Papierfabrieken), FNOI (Federatie Nederlandse Oudpapier Industrie), Nedvang und PRN (Stichting Papier Recycling Nederland) dazu auf, die Sammlungen wieder aufzunehmen.

Ziel: Anerkennung als systemrelevant
Nicht nur die Europäische Föderation der Entsorgungswirtschaft (FEAD) drängte im März darauf, Entsorgungs- und Recyclingaktivitäten als grundlegende öffentliche Dienstleistungen in jedem Mitgliedsland der Europäischen Union anzuerkennen. Auch die innereuropäische Abfallverbringung sei essenziell, zumal die Abfallketten – wie die Lieferketten in allen anderen Industriebereichen der EU – auf grenzüberschreitende Transporte angewiesen seien, da viele Mitgliedstaaten nicht über sämtliche Anlagen zur Behandlung aller Abfallfraktionen verfügten.

EuRIC als Dachverband der Recyclingwirtschaft betonte in seinem Statement unter anderem, dass er die Klassifikation der Branche als strategischen Sektor in allen Mitgliedstaaten der EU anstrebt, und forderte die EU-Kommission auf, eine Liste an strategischen/kritischen Sektoren aufzustellen, worin auch die Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft eingeschlossen sein soll. Darüber hinaus forderte EuRIC, dass Sekundärrohstoffe – gleichgültig ob als Abfall oder Produkt eingestuft – während der Corona-Krise auch über Grenzen hinweg an europäische Produktionsanlagen geliefert werden können, die noch in Betrieb sind.

Wie der europäische Verband Cepi unterstrich auch der Europäische Altpapierrat (EPRC) im März, Behörden sollten wichtige Branchen wie die Papierindustrie in die Lage versetzen, die Produktion weiterzuführen, sowie den Transport und grenzüberschreitende Lieferungen für die Versorgung mit entsprechenden Waren erleichtern. In diesen schwierigen Zeiten sei es wichtiger denn je, die Versorgung der Industrie aufrecht zu erhalten, um Verpackungen für essenzielle Produkte sicherzustellen, wurde Angelika Christ, Vorsitzende des EPRC, zitiert.

Die Unternehmen der deutschen Papierindustrie haben alle Maßnahmen ergriffen, um das innerbetriebliche Infektionsrisiko für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu minimieren und so auch die weitere Produktion von Papier, Karton, Pappe und Zellstoff sicherzustellen, informierte der Verband Deutscher Papierfabriken (VDP). Jedoch würden Produktionseinschränkungen befürchtet. Daher habe die Branche die Politik in Bund, Ländern und Kommunen aufgefordert, die Herstellung von Papierprodukten, die für die Grundversorgung der Bevölkerung notwendig sind, als systemrelevant einzustufen. Entsprechende Produktionsanlagen müssten durchgehend in die Ausnahmekataloge zur kritischen Infrastruktur einbezogen werden. Dies sei derzeit in Deutschland noch nicht überall erfolgt.

Die Hersteller von Wellpappe haben dieses Ziel schon erreicht. Ende März meldete der deutsche Verband der Wellpappen-Industrie (VDW), dass die Branche als systemrelevant anerkannt ist. „Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat in den aktuellen ‚Leitlinien KRITIS Ernährung‘ Betriebe zur Herstellung von Verpackungen und Verpackungsmaterial für Erzeugnisse der Ernährungsindustrie aufgeführt“, berichtete die Vereinigung.

Laut VDW hatte sich die Branchenvertretung mit anderen Verbänden der Verpackungsindustrie in einer Stellungnahme an die Bundesregierung gewandt. Die Einstufung als systemrelevant bedeutet für die Wellpappenhersteller, „dass sie von Pandemie-bedingten Betriebsschließungen, unter Berücksichtigung des notwendigen Gesundheitsschutzes, ausgenommen würden. Damit verbunden sind außerdem befristete Maßnahmen, um ausreichend Arbeitskräfte beschäftigen zu können.“

Wie der Verband weiter berichtete, hatten die deutschen Wellpappenhersteller deutlich gemacht, dass sie die Belieferung der Hersteller von Lebensmitteln, medizinischen Gütern und Medikamenten mit leistungsfähigen Transportverpackungen aus Wellpappe sicherstellen. In Deutschland werden etwa zwei Drittel aller Waren in Wellpappe verpackt, um in die medizinischen Versorgungszentren und in die Geschäfte des Einzelhandels sowie zu den Verbrauchern zu gelangen.

Um Liefersicherheit aufrecht erhalten zu können, sind die Wellpappenhersteller auf die zuverlässige Versorgung durch ihre Zulieferer angewiesen, betonte der Verband. „Für die Herstellung von Transportverpackungen, in denen Müsli, Konserven oder Reinigungsmittel transportiert werden, benötigen wir unter anderem Papier, Leim und Druckfarben“, so VDW-Geschäftsführer Dr. Oliver Wolfrum. „Daher ist es wichtig, dass auch unsere Partner aus den Zulieferbranchen als systemrelevant eingestuft wurden.“

*) Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Tschechische Republik und Ungarn.

(EU-Recycling 05/2020, Seite 44, Autor: Brigtte Weber, Foto: Jochen Zellner, Lk Neustadt/Aisch-Bad Windsheim / abfallbild.de)

 

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