Abfallpolitik nach dem Brexit: Das Vereinigte Königreich kocht sein eigenes Süppchen
Am 31. Dezember 2020 endet die im Austrittsabkommen geregelte Übergangsphase, in der die langfristigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union neu ausgehandelt werden sollen. Neben vielem, was noch der Klärung bedarf, stellt sich auch die Frage, inwieweit die Briten in der Umweltpolitik vom Kontinent abrücken wollen. Wie geht es weiter mit der Abfallwirtschaft auf der Insel?
„Beibehaltung der Kontinuität von Abfalltransporten, falls es keine Brexit-Vereinbarung gibt“: So lautete der Titel eines Leitfadens, den die Umweltbehörde des Vereinigten Königreichs noch im Dezember 2018 veröffentlichte. Sollte – so der Ratgeber – nach dem 30. März 2019 keine Vereinbarung zustande gekommen sein, würden bis dahin notifizierte Abfalltransporte zwischen EU und Großbritannien eine Neugenehmigung benötigen; gleiches gelte für Transporte bei EU-Transit. Allerdings gebe es gegenwärtig keinen Passus in den Abfalltransport-Bestimmungen der EU, der dieses regelt. Zwar werde das Königreich dann Vertragspartner der Basel Konvention und OECD-Mitglied bleiben und deren internationale Bestimmungen einhalten. Doch würde das Land in der gleichen Weise wie jedes andere OECD-Land oder jeder andere Partner der Basel Konvention behandelt werden.
Abläufe beibehalten
Exporteure von der Insel müssten sich mit den Richtlinien vertraut machen, die die Europäische Union für Importe von außerhalb festgelegt hat. Für Transporte aus der EU ins Vereinigte Königreich sollten die Vorgaben der EU-Abfalltransport-Bestimmungen greifen, wonach kein EU-Land dorthin Abfälle zur Beseitigung oder gemischte Siedlungsabfälle zur Rückgewinnung exportieren darf. Für alle Im- und Exporte zwischen EU und Königreich sollten die Abläufe für Recyclingabfälle beibehalten werden, die laut Grünem Kontroll-Verfahren (Green Control procedure) der OECD für den Transport geeignet erscheinen.
Mitte März 2020 wurde das Papier zurückgezogen und durch ein neues ersetzt, das Regeln für Transporte ab Jahresbeginn 2021 festlegt. Ab diesem Zeitpunkt sollen zusätzliche Zoll-Formalitäten für Exporte auf den Kontinent hinzukommen, und die Behörden in den entsprechenden EU-Empfänger- oder Transit-Ländern müssen informiert werden. Außerdem muss die britische Regierung einen „hinreichend begründeten Antrag“ an die jeweiligen zuständigen Verwaltungen der Empfängerländer stellen, der erklärt, warum im Königreich die nötigen Entsorgungseinrichtungen nicht vorhanden sind oder nicht angeschafft werden können. Bestimmte Abfallimporte aus der EU auf die Insel sind wie bisher unzulässig. Die Regeln für den Transport nicht-notifizierter, unbelasteter Abfälle zum Zweck des Recycelns unter der Kontrolle der Grünen Liste bleiben jedoch bestehen. Unter bestimmten Bedingungen können Unternehmen in Vereinigten Königreich auch EU-Abfälle importieren.
Auf Schwierigkeiten vorbereitet
Auch wenn die britischen Gesetzgeber zugesagt haben, dass die notwendigen Trans-Frontier-Shipment-Notifikationen ihre Gültigkeit behalten, könnte das in der Praxis zu Problemen führen. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass Zollkontrollen nicht funktionieren und langwierige Verzögerungen sowie Kostensteigerungen daraus resultieren. Im schlimmsten Fall werden sich die britischen Entsorgungsunternehmen gezwungen sehen, die Abfälle thermisch zu verwerten oder sie angesichts ausgelasteter Verbrennungskapazitäten zu deponieren. Zurzeit steht jedenfalls noch nicht fest, welcher Zolltarif für die logistische Abwicklung aufgeschlagen werden könnte.
Allerdings – so war von Steve Patterson, dem Geschäftsführer von Remondis UK, zu erfahren – würde sich das Londoner Umweltministerium auf eventuelle Schwierigkeiten vorbereiten. Im Süden von England suche man nach Lagerstätten für Abfälle, die nicht exportiert werden dürfen. Und Umweltminister Michael Gove habe angekündigt, die genehmigten Lagerkapazitäten für Abfälle im Bedarfsfall zu erhöhen. Konkret geht es um rund 3,6 Millionen Tonnen an Ersatzbrennstoffen, die jedes Jahr auf den Kontinent transportiert werden. Schweden als Hauptabnehmer habe – selbst für den Fall eines harten Brexit – bereits einer Fortführung der geltenden Regelungen zur grenzüberschreitenden Verbringung von notifizierten Abfällen zugestimmt; es wäre gut, wenn auch die Niederlande und Deutschland damit einverstanden wären. Da die meisten Länder, die Brennstoffe importieren, das Prinzip überwiegend akzeptieren, könne man – so Patterson – davon ausgehen, „dass – Stand März – 98 Prozent der EBS-Exporte von keiner Änderung der TFS-Dokumentation betroffen sein werden“. Dadurch seien freilich die möglichen praktischen Probleme der Handhabung in den Häfen und der Zollformalitäten noch nicht behoben.
Regression durch Versäumnis
Auf die Frage nach langfristigen Konsequenzen für die britisch-deutsche Kreislaufwirtschaft angesprochen, hofft Patterson auf einen weichen Brexit und eine fortgesetzte „Reise hin zu einer echten Kreislaufwirtschaft“. Diesen Fortschritts-Optimismus vermögen Prof. Andrew Jordan und Dr. Brendan Moore von der University of East Anglia in Norwich, England nicht zu teilen. Sie haben die britische Umwelt-Gesetzgebung auf ihre Anpassungsfähigkeit untersucht und sehen eher eine mögliche „Regression durch Versäumnis“ (Regression by Default) auf das Land und seine Umweltpolitik zukommen.
Dazu muss man wissen, dass für die meisten politischen und regulatorischen Zusammenhänge des Rohstoff- und Abfallsektors im Vereinigten Königreich die Europäische Union verantwortlich zeichnet. Die Richtlinien außerhalb Englands – insbesondere in Wales, wo die Recyclingziele teilweise schärfer als in der EU gefasst sind – sind ambitionierter, während das in England nicht der Fall ist und die verschiedenen originalen EU-Abfallziele die Schlüsselfaktoren bilden – die meisten haben 2020 als Zieldatum gesetzt. Der Brexit bringt zusätzliche Unsicherheit in diesen Sektor.
Ohne Überprüfung oder Überarbeitung
Jordan und Moore sehen den Kardinalfehler der heimischen Umweltpolitik in der unzureichenden Überprüfung und Überarbeitung der politischen Fahrpläne, die die Nation von der EU zurückbehalten habe. Würden diese nach dem Brexit nicht komplett fortgeführt beziehungsweise in britisches Recht transferiert, werde das eine massive Lücke in der Umweltschutz-Politik des Vereinigten Königreichs hinterlassen. Die Regierung behauptet, dieses Loch durch „Beibehalten“ aller relevanten politischen Gesetze und Maßnahmen gestopft zu haben – in Form einer so genannten übertragenen Gesetzgebung, veröffentlicht unter der Bezeichnung „Rechtsverordnungen“ (statutory instruments, kurz SIs) –, die dann ins Regelwerk übernommen werden. Die Frage bleibt, wie all diese „beibehaltenen“ Gesetze regelmäßig – außerhalb des Regulierungsrahmens der EU – aktualisiert werden können. Dem gingen Jordan und Moore nach, indem sie ausgesuchte EU-Umweltgesetze mit entsprechenden britischen Rechtsverordnungen verglichen.
Das Resultat: „Wir entdeckten, dass in der großen Mehrheit der Rechtsverordnungen die EU-Klauseln zur Überprüfung und Überarbeitung gelöscht waren.“ Dass hier ein öffentlicher Plan zum Umgang mit den beibehaltenen EU-Gesetzen fehlt, dürfte nach Ansicht der Wissenschaftler langfristig bedeutende politische Konsequenzen haben. Die zum Teil beabsichtigt sind wie beispielsweise ein denkbarer Rückschritt nach dem Brexit durch einen dezidierten Prozess der Deregulierung und des Abbaus von Bürokratie oder – weniger bekannt – eine Regression durch die Hintertür, die langsam durch Versäumnis und Abwesenheit von Überprüfungs- und Überarbeitungs-Klauseln zustande kommt. Freilich bietet sich dem Vereinigten Königreich nach Austritt aus der EU die Chance, seine Fortschrittsfähigkeit zu beweisen, indem progressiv auf die „beibehaltenen“ Gesetze gesetzt wird und diese mit der Zeit verbessert werden.
Durch neue Regeln ersetzt
Wie diese Rechtsverordnungen gehandhabt werden, zeigen Jordan und Moore. So wurde nach ihrer Darstellung die EU-Richtlinie zur Kontrolle von Quecksilber durch eine neue Regelung 22 ersetzt, ebenso wie die Direktive für Persistent Organic Pollutants (POPs). Die REACH-Verordnung wurde „beibehalten“ und durch die Rechtsverordnung 95 eines Staatsministers geändert. Und auch die Abfallverbringungs-Verordnung wurde beseitigt und von einer Regelung 99 abgelöst. Klauseln zur Überprüfung und Überarbeitung der neuen Vorgaben enthielt nach Einschätzung der Wissenschaftler nur die REACH-Direktive.
Vorteile durch eigene Gesetze?
Dennoch gibt es Indizien, dass Großbritannien über kurz oder lang an keiner Mitgliedschaft in der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) mehr interessiert sein und auch auf das REACH-System verzichten wird. Das betonte Rebecca Pow, Parlamentarische Staatssekretärin im britischen Umweltministerium, im März 2020 in einem Schreiben an die UK Lubricants Association.
In der Begründung steht: „Während der Übergang zu REACH in Großbritannien einige Anpassungen erfordern wird, glauben wir, dass die Vorteile einer Kontrolle durch unsere eigenen Gesetze die Kosten aufwiegen.“ In gleicher Weise ist der Verband der britischen Industrie davon überzeugt, dass der Chemiesektor wenig Nutzen aus den EU-Normen zieht, da er ohnehin streng reguliert wird und das Vereinigte Königreich mit seinen Chemikalienexporten stark von der Europäischen Union als Abnehmer abhängig ist. Und die Vereinigung der britischen Chemieindustrie setzt darauf, dass eine Sonderregelung des Sektors sich in den Vorschlägen für ein Freihandelsabkommen mit der EU gut machen werde, auch wenn das Verbleiben im REACH-System das bessere Ergebnis gebracht hätte.
Handel zusätzlich erschwert
Diese Entscheidung birgt etliche Nachteile. Falls das Land ein eigenes Registrierungssystem für Chemikalien aufbaut und REACH-Daten aus der Europäischen Union in dieses System integriert, müssen sich EU-Unternehmen und britische Firmen erneut registrieren. Andererseits sind britische Unternehmen gehalten, ihre Registrierungen an einen Vertreter in der EU zu übertragen, um weiterhin Produkte auf dem Kontinent verkaufen zu können. Britische Chemikalien-Käufer gelten dann als Importeure, unterliegen den Registrierungsvorgaben und müssen für die entsprechenden Kosten aufkommen. Die Gebühren sind voraussichtlich ebenso hoch wie die der EU-Registrierung, gelten aber nur für den britischen Markt. Hinzu kommt, dass die Registrierung innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein muss, was für viele Organisationen zusätzlichen Aufwand und Zeitdruck bedeutet; möglicherweise will das Umweltministerium den Zeitrahmen erweitern. Zusätzliche Konsequenzen wie Zölle für Import- und Export-Produkte, die Unterbrechung von eingespielten Lieferketten oder die Vorlage von Ursprungsnachweisen dürften den Handel zusätzlich erschweren.
Im August 2017 orakelte das Chartered Institution of Wastes Management (CIWM) über die Auswirkungen des Brexit auf den britischen Abfallsektor: „Es gibt eine Reihe potenzieller Folgen des Brexit für den britischen Ressourcen- und Abfallwirtschaftssektor. Sie reichen von mikro-ökonomischen Einflüssen wie Umtauschsätzen und Investitionsentscheidungen bis zu zukünftigen politischen Neuerungen bei Recyclingzielen. Einige davon sind vermutlich sehr negativ und einige ausgesprochen positiv, aber für die meisten ist es schwierig, jetzt Vorhersagen zu treffen.“ In den letzten (knapp) zwei Jahren hat sich der Nebel wenigstens etwas gelichtet.
(EU-Recycling 07/2020, Seite 6, Foto: Pete Linforth / Pixabay)