Wie kritisch sind Kritische Rohstoffe?

Am 16. März hat die EU-Kommission ein umfassendes Maßnahmenpaket vorgeschlagen, mit dem eine sichere, diversifizierte, bezahlbare und nachhaltige Versorgung mit kritischen Rohstoffen für die Europäische Union gewährleistet werden soll.

Rohstoffe seien für ein breites Spek­trum strategischer Sektoren wie Netto-Null-Industrie, digitale Industrie, Luft- und Raumfahrt sowie Verteidigung unverzichtbar. Da zu befürchten ist, dass die Beschleunigung des grünen und digitalen Wandels die europäische und weltweite Nachfrage nach diesen kritischen Rohstoffen erhöhen wird, müsse die EU garantieren, dass sie solche, die sie in Zukunft benötigen wird, sichern kann. Nach Ansicht von Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton könne es sich die EU nicht leisten, sich „ausschließlich auf Drittländer zu verlassen – bei einigen seltenen Erden sogar nur auf ein einziges Land. Durch die Diversifizierung der Versorgung aus Drittländern und den Ausbau der eigenen Kapazitäten der EU für Förderung, Verarbeitung, Recycling, Raffinierung und Trennung seltener Erden können wir widerstandsfähiger und nachhaltiger werden.“

Gemessen am jährlichen Gebrauch
Das entsprechende Maßnahmenpaket enthält nicht nur eine aktualisierte, auf 30 erhöhte Liste der kritischen Rohstoffe, sondern auch „klare Richtwerte“ für die inländischen Kapazitäten entlang der strategischen Rohstofflieferkette und für die Diversifizierung der Versorgung der EU bis 2030“:

  • mindestens 10 Prozent des jährlichen Verbrauchs der EU in Bezug auf den Abbau,
  • mindestens 40 Prozent des jährlichen Verbrauchs der EU in Bezug auf die Verarbeitung und
  • mindestens 15 Prozent des jährlichen Verbrauchs der EU in Bezug auf das Recycling.

Demzufolge müssen die europäischen Recyclingkapazitäten ausreichend sein, um mindestens 15 Prozent des Verbrauchs abzudecken, erläuterte EuRIC-Generalsekretär Emmanuel Katraki auf der BIR-Convention in Amsterdam am 2. Juni 2023. Doch er fügte hinzu, dass die meisten Rohstoffe „weit, weit, weit davon entfernt“ sind. Außerdem sei es notwendig geworden, jetzt, da die Politiker Recycler als Schlüsselfiguren begreifen, ein Verständnis dafür zu schaffen, dass viele kritische Rohstoffe nicht recycelt werden, weil die Unternehmen Konkurs riskieren müssten. Gegenwärtig fehle eine finanzielle Stütze, so wie sie in den USA eingeführt wurde.

Schlecht begründete Korrekturvorschläge
Kritik äußerte die European Recycling Industries’ Confederation (EuRIC) auch am Entwurf des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie des EU-Parlaments vom 26. und 30. Mai 2023. In einer Presseerklärung vertrat der Verband den Standpunkt, der Entwurf sei eine Ansammlung an schlecht begründeten Korrekturvorschlägen. So sollten beispielsweise Materialien wie Eisenschrott, Kupfer, Aluminium und Aluminiumlegierungen, Silber und Zink als kritische Rohstoffe eingestuft werden, ohne dass dies wissenschaftlich belegt oder nachvollziehbar wäre. EuRIC hält dagegen, „dass jeder Vorschlag, der in der EU-Rechtsprechung festgelegt wird, unterstützt werden muss durch eine Bewertung, die lediglich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.“ bvse-Expertin Birgit Guschall-Jaik vermutet, „dass diese Einstufung auf den Willen bestimmter Lobbygruppen zurückgeht“. Dem Vorschlag der Kommission, die Überprüfung und Aktualisierung der vorgenommenen Einstufung zu verkürzen, hält die EuRIC entgegen, dass eine Verkürzung dieser Frequenz eine noch nie dagewesene Unsicherheit hinsichtlich der Zuweisung von Kapital in neue Investments hervorrufen könnte. Die Kommission sollte hingegen – falls notwendig – die Liste der kritischen Rohstoffe vier Jahre nach ihrem Inkrafttreten und danach alle vier Jahre erneut aktualisieren.

Dem freien Warenverkehr widersprechend
Was die Vorschläge der Politiker zu eventuellen Exportbeschränkungen anlangt, würden sie dem Freihandels-Konzept widersprechen. Recyclingmaterialien, die die Vorgaben der Industrie erfüllen oder internationalen Standards entsprechen, müssten vielmehr Zugang zu den internationalen Märkten haben; es sei daran erinnert, das solche Entscheidungen von der EU-Vorschrift zur Abfallverbringung geregelt sind. Diese Meinung teilt auch der bvse. Ein solches Ansinnen stehe „in krassem Widerspruch zum Konzept des ‚Freien Warenverkehrs‘ und damit internationaler Handels- und Zollabkommen“, kommentierte Birgit Guschall-Jaik und betonte, es sei unerlässlich, dass Sekundärrohstoffe, die den internationalen Spezifikationen der Industrie oder Normen entsprechen, einen freien Zugang zu den internationalen Märkten bekommen. Und schließlich gab Emmuanuel Katrakis grundsätzlich zu bedenken, dass die Europäische Union an einem Scheideweg steht: „Die Entscheidungen, die für eine Anzahl entscheidender legislativer Vorschläge – einschließlich solcher zu kritischen Rohstoffen – getroffen werden, werden die Zukunft der europäischen Recyclingindustrie und also ihre Fähigkeit, wie im Green Deal und dem Circular Economy Action Plan (CEAP) vorgesehen, bestimmen.“

Die Wirtschaft widerstandsfähiger machen
Prognosen zufolge wird die Nachfrage nach kritischen Rohstoffen drastisch zunehmen. Momentan ist Europa stark auf Importe angewiesen, die häufig von Lieferanten aus nur einem Drittland mit einer Quasi-Monopolstellung stammen. „Die EU muss die für die Lieferketten mit solchen strategischen Abhängigkeiten einhergehenden Risiken mindern, um ihre Wirtschaft widerstandsfähiger zu machen“, lautete eine Pressemitteilung der EU-Kommission zum Thema „Kritische Rohstoffe“. Hinsichtlich Wiederverwendung und Recycling vermerkt das Papier: „Die Mitgliedstaaten müssen durch die Umsetzung und Verabschiedung nationaler Maßnahmen dafür sorgen, dass die Sammlung von Abfällen mit einem hohen Anteil an kritischen Rohstoffen verbessert wird und diese zu kritischen Sekundärrohstoffen recycelt werden.“

Von russischen Importen abhängig
Der Frage, ob diese Verbesserung sich so leicht realisieren lässt, wie sich das die EU-Kommission vorstellt, gingen 2022 zwei Wissenschaftler des Brüsseler Centre for European Policy Studies nach. In einem Artikel über „Kohlenstoff-arme Technologien und russische Importe“ untersuchten Vasileios Rizos and Edoardo Righetti die Umsetzung am Beispiel von Lithium-Ionen-Batterien, Turbinen von Windkraftanlagen und Kraftstoffzellen für Elektromobile. Sie kamen zu dem Schluss, dass der bisherige Umfang an Recycling nicht hinreichend ist, um den steigenden materiellen Anforderungen der EU zu genügen.

Immerhin seien 2020 die EU-Importe von Metallen, Mineralstoffen und Gummiprodukten für 51 Prozent der gesamten Einfuhr von Rohstoffen und für 82 Prozent des entsprechenden Handelsdefizits verantwortlich gewesen. Laut Eurostat wurden in diesem Jahr Rohstoff-Exporte in Höhe von 53,2 Milliarden Euro bei Importen in Höhe von 79,6 Milliarden getätigt. Speziell Russland zählt mit 40 Prozent zu den weltweit größten Palladium-Lieferanten und gilt mit 13 beziehungsweise 12 Prozent als zweitgrößter Platin- und Nickel-Versorger, wichtiger Lieferant von Aluminium und Kupfer und möglicher zukünftiger Hauptakteur auf dem Markt für Seltene Erden.

Nachfrage nach Recyclingmaterial
Also stellt sich die Frage, in welchem Umfang die Importabhängigkeit der Europäischen Union durch Recycling vermindert werden kann? Ein rasches Wachstum im Fahrzeugverkauf in den späten 2030er- und frühen 2040er-Jahren und ein darauffolgendes Abklingen der Nachfrage vorausgesetzt, rechneten Rizos/Righetti – je nach Sammelquote und Szenario – für 2030 bei Lithium-Ionen-Batterien mit elf beziehungsweise 21 Prozent Deckungsquote durch Recycling, für 2040 mit 26 bzw. 52 Prozent. Unterstützung durch Recycling wird 2030 bei Aluminium mit 12 bzw. 24 Prozent veranschlagt, 2040 mit 26 bzw. 52 Prozent. Die Abdeckungsquoten bei Kupfer sind denen von Aluminium sehr ähnlich, während sie bei Nickel lediglich Bandbreiten von sieben bis 14 Prozent für 2030 und 25 bis 49 Prozent für 2040 erreichen.

Die Entwicklung der Windkraftanlagen zeigt ein anderes Bild. Stieg der Bedarf nach solchen Anlagen zwischen 2012 und 2021 um rund ein Drittel, wird die Nachfage nach Recyclingmaterial aus Altanlagen in 2030 bis 2040 nicht allzu hoch sein, aber nach 2040 sicherlich wieder steigen. Bei einer durchschnittlichen Laufzeit von 25 Jahren bis 30 Jahren je nach Anlagenart ist folglich in den 30er-Jahren mit einer Marktnachfrage nach Recyclingmaterial zwischen drei und 25 Prozent zu rechnen, im darauffolgenden Jahrzehnt mit einem leichten Anstieg auf sieben bis 27 Prozent.

Bemühungen beim Recycling intensivieren
Bei Platin-haltigen Kraftstoffzellen sehen die Autoren – trotz konstantem Wachstum von E-Fahrzeugen um jährlich 48 Prozent – zunächst nur eine äußerst geringe Nachfrage nach wiederverwertetem Material. Durch steigende Zahlen Kraftstoffzellen-betriebener Fahrzeuge wird jedoch für die 2040er-Jahre ein großes Aufkommen an recycelbarem Platin erwartet, sodass bei der Platinnachfrage ein Anteil aus dem Recycling zwischen sechs und elf Prozent zu erwarten ist. Insgesamt könnte also der Auf- und Ausbau von Recyclingkapazitäten nicht nur den zukünftigen materiellen Anforderungen entgegen kommen, sondern die Import-Abhängigkeit – auch und gerade mit Blick auf Russland – verringern. Rizos/Righetti schlagen darum vor, dass die EU ihre Bemühungen intensivieren sollte, um ihre Recycling-Kapazitäten zu erweitern, Gelegenheiten für Investitionen zu nutzen und Partnerschaften mit Ressourcen-reichen Ländern wie der Ukraine einzugehen.

(Erschienen im EU-Recycling Magazin 07/2023, Seite 50, Foto: Stefan Korbion / pixabay.com)