Abfallwirtschaft 2035: Ein Blick in die Zukunft
Kreislaufwirtschaftspaket, Corona und Brexit haben die Bedingungen für den europäischen Abfallmarkt entscheidend geändert. Welche Konsequenzen und Perspektiven sich daraus für die Zukunft insbesondere der thermischen Verwertung bis 2035 ergeben, haben Thomas Obermeier, Inga Fischer und Isabelle Henkel (TOM M+C Thomas Obermeier Management und Consulting, Berlin) untersucht. Ihre Ergebnisse stellten sie am 10. Juni 2021 auf der Berliner Abfallwirtschafts- und Energiekonferenz vor.
Als Grundlage für die Berechnungen diente das nicht gefährliche Gesamtabfallaufkommen in Deutschland in Höhe von 97,7 Millionen Tonnen (mt), bestehend aus Siedlungsabfällen (Municipal Solid Waste, MSW) und Abfällen aus Produktion und Gewerbe (Commercial & Industrial Waste, C&I W). Sie summierten sich 2017 auf 51,1 mt MSW und 46,5 mt C&I W. Für die Prognose bis 2035 veranschlagten die Autoren beim MSW die in 2020 durch Corona verstärkt angefallenen Siedlungsabfallmengen und berücksichtigten auch bei C&I W die wirtschaftliche Entwicklung. Danach resultiert für das Jahr 2035 eine Gesamtabfallmenge von 101,4 mt, aufgeteilt auf 51,5 mt MSW und 49,8 mt C&I W. Insgesamt landen davon 13,1 mt auf Deponien und durchlaufen 49,4 mt Recycling- oder Kompostieranlagen, während 39,0 mt an Abfällen der thermischen Verwertung unterliegen. Zusammen mit 1,3 mt nicht gefährlicher Bau- und Abbruchabfälle und 0,5 mt aus dem Import-/Export-Saldo addieren sich die thermisch und energetisch nutzbaren Abfälle auf 40,7 mt.
Kapazitätslücke von 1,4 mt
Zur Bearbeitung brennbarer Abfälle stehen in Deutschland 96 thermische Abfallverwertungsanlagen mit einer Kapazität von 26,6 mt und einer Verfügbarkeit von 98 Prozent bereit, bieten andere Feuerungsanlagen 7,5 mt weiteres Potenzial, sind zehn WtE-Projektvorhaben mit insgesamt 1,1 mt zusätzlicher Kapazität geplant und kann die Mitverbrennungskapazität von 4,6 mt in Zementöfen in die Kalkulation einbezogen werden. Alles in allem existieren somit 39,3 mt an thermischem Verwertungspotenzial und ergeben – gemessen an den nutzbaren Abfällen – eine Kapazitätslücke von 1,4 mt.
Bei den Recycling- und Kompostieranlagen schlagen die anstehende Schließung von Biomasse-Kraftwerken, der Wegfall der Mitverbrennung in Kohlekraftwerken und die Reduzierung zusätzlicher Kapazitäten zu Buche. Derzeit (Stand 2017) steht der für 2035 errechneten Inputmenge für Recycling- und Kompostieranlagen in Höhe von 66,9 mt eine Durchsatzmenge von 48,9 mt gegenüber – eine rechnerische Unterkapazität von rund 18 mt. Allerdings sind die mechanisch-biologischen Anlagen mit einem Durchsatz von lediglich 3,1 mt im Jahr 2017 nicht ausgelastet, sodass sie technisch umgerüstet werden könnten.
Europa: insgesamt 549,0 mt
Nach Angaben von CEWEP, dem Europäischen Dachverband der Waste-to-Energy-Branche, wurden Siedlungsabfälle in der EU im Jahr 2018 zu 47 Prozent recycelt oder kompostiert, 28 Prozent thermisch verwertet und zu 23 Prozent deponiert. Für die Modellierung der zukünftigen Abfallverwertung in der EU war jedoch der jetzige „Abfall ohne dominante mineralische Abfälle“ ausschlaggebend – reduziert um Mengen wie Siedlungsabfälle, Sortierrückstände, Schlämme aus der Abfallbehandlung, Verbrennungsrückstände, mineralische Abfälle aus der Abfallbehandlung und stabilisierte Abfälle. Der in einigen Ländern sehr hohe C&I W-Anteil wurde entsprechend angepasst. Daraus errechneten sich insgesamt gerundet 549,0 mt Abfälle, bestehend aus 247,3 mt MSW und 301,7 mt C&I W. Für die Prognose wurde bei MSW die Entwicklung der Bevölkerung und der Siedlungsabfallmengen bis 2035 hochgerechnet, für C&I W das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und damit des Abfalls aus Produktions- und Gewerbefälle ermittelt. Für das Jahr 2035 ergeben sich daraus insgesamt 610,1 mt, zusammengesetzt aus 254,4 mt MSW und 355,7 mt C&I W.
174,8 mt für die thermische Verwertung
Im Hinblick auf die Abfallströme erfolgte eine Festlegung von Deponierungsraten: für MSW zehn Prozent und C&I W 40 Prozent, unter Berücksichtigung der Länderanteile mit geringer Deponierungsquote. Zudem wurde zugrunde gelegt, dass sich MSW zu 65 Prozent und C&I W zu 40 Prozent getrennt erfassen lassen und Sortier- sowie Kompostieranlagen durchlaufen. Die davon nicht betroffenen Abfallmengen galten als Potenzial für die Waste-to-Energy-Behandlung. Zwei sekundäre Abfallströme aus nicht recycelbarem Durchsatz aus Recyclinganlagen wurden gesondert betrachtet: Deponiematerial (2 Prozent MSW und 8 Prozent C&I W) und W-t-E-Potenzial (5 Prozent MSW und 10 Prozent C&I W).
Aus diesen Annahmen resultierte schließlich eine Modellrechnung, die die 610,1 mt Gesamtmenge in 164,8 mt Deponieabfall, 272,3 mt Recycling- beziehungsweise Kompostiermaterial und 173,0 mt Abfälle zur thermischen Verwertung unterteilt. Den Import-/Export-Saldo und nicht gefährliche Bau- und Abbruchabfälle hinzugezählt, bleiben insgesamt 174,8 mt zur thermischen Verwertung übrig.
Zu wenig installierte Verbrennungskapazität
Zu ihrer Behandlung stehen europaweit 385 Verwertungsanlagen mit einer Kapazität von 72,1 mt zur Disposition, die sich bei 90-prozentiger Verfügbarkeit auf 64,9 mt belaufen. Auch befinden sich 39 W-t-E-Projekte mit einem Potenzial für 6,9 mt in Planung. Hinzu kommen 7,8 mt Mitverbrennungskapazität in Zementöfen. Zusammen mit den 39,3 mt aus entsprechenden Anlagen in Deutschland verfügt Europa über 118,9 mt an thermischen Verwertungskapazitäten. Damit klafft – selbst bei weitestgehender Erreichung der EU-Ziele für Recycling und Deponierung von Siedlungsabfällen – eine „erhebliche Lücke“ zwischen Entsorgungsbedarf und tatsächlich installierter Verbrennungskapazität.
UK: Exporte von Ersatzbrennstoffen gedrosselt
Laut vorliegenden Zahlen sank in Großbritannien zwischen 2010 und 2018 die Deponierungsrate von 49 auf 15 Prozent, während die Recyclingquote von zwölf auf 44 Prozent und der Anteil der thermischen Behandlung auf 39 Prozent stiegen. 2019 wurden 12,6 mt Abfälle in 53 Anlagen thermisch bearbeitet. Elf Anlagen befinden sich im Bau; eine ist stillgelegt. Mit 6.700 GWh Strom und 1.400 GWh Wärme erzeugten W-t-E-Anlagen im Jahr 2019 rund zwei Prozent der britischen Gesamtstromerzeugung. Die wachsende Anlagenkapazität und der EU-Austritt drosselten die Ausfuhr von Ersatzbrennstoffen und die Importe aus Deutschland und den Niederlanden. Zwischen Frühjahr 2017 und Mai 2017 sanken die britischen EBS-Exporte insgesamt von knapp 300.000 Tonnen auf rund 80.000 Tonnen. Im gleichen Zeitraum reduzierten sich die Importe in Deutschland von 50.000 auf annähernd null; die Niederlande rechnen bis 2022 mit einem ähnlichen Ergebnis.
Laut Tolvik Consulting Ltd. sind drei Szenarien zur zukünftigen Entwicklung der britischen Abfallmengen möglich: ein optimistisches, bei der die Mengen an MSW und C&I W zurückgehen, die Verbrennungskapazitäten zulegen und der EBS-Export sich nur wenig verringert; ein pessimistisches mit steigenden Mengen an MSW und C&I W, deutlichem Rückgang an EBS-Ausfuhren und schwachem Ausbau der W-t-E-Kapazitäten; und ein realistisches, das im Mittelwert der beiden anderen Szenarien liegt.
Engpässe unausweichlich
Für die W-t-E-Branche bedeutet selbst das realistische Szenario trotz Zubau von 1,4 mt eine Kapazitätslücke bei der MSW- und C&I W-Behandlung von 4,7 mt; die pessimistische Variante impliziert einen Engpass von 9,8 mt. Die begrenzten britischen Deponiekapazitäten könnten die Lücke noch weiter klaffen lassen, auch wenn der Anteil der thermischen Verwertung in Großbritannien mit 38 Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt mit 26,6 Prozent liegt. Eine Expertengruppe des Think Tanks „Policy Connect“ hält es allerdings für realistisch, dass bis 2035 die 60-prozentige Verwertung von Siedlungsabfällen erreicht wird und die Exporte von Ersatzbrennstoffen stabil bleiben; der Tipping Point Report von DS Smith fällt jedoch pessimistischer aus.
Rückgang zwischen sieben und elf Prozent erwartet
Die Corona-Pandemie führte – durch verstärktes Home-Office und vermehrt genutzten Online-Handel – zu einem MSW-Zuwachs von 24 Prozent, der nach dem Lockdown auf 18 Prozent schrumpfte. Was die C&I W-Mengen anlangt, so hängen sie mit der Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Bruttowertschöpfung (BWS) zusammen; PricewaterhouseCoopers schätzt den BIP-Rückgang auf minus sieben Prozent, den der BWS auf minus elf Prozent. Für die weitere Mengenentwicklung der Gewerbe- und Industrie-Abfälle bis Ende 2021 stehen drei Szenarien – bei angenommen gleichbleibenden Recyclingraten – zur Verfügung: In der „leichten“ Version liegen die Mengen nur um 1,5 Prozent niedriger als vor Corona erwartet, bei der „mittleren“ Version wird die Erwartung um sieben Prozent unterboten, und im Fall „schwerer“ Auswirkungen und unter Hinzuziehung der BWS-Kalkulation sinken die Abfälle um elf Prozent mehr als erwartet. Tolvik rechnet mit einem mittleren Rückgang zwischen sieben und elf Prozent beziehungsweise 1,0 bis 1,6 mt.
Dennoch: eine Schlüsselposition
Aufgrund erschwerter Exportbedingungen, der Notwendigkeit zur Ressourceneffizienz und der vom Think Tank „Policy Connect“ geforderten „Road to Net-Zero“ steht die thermische Abfallwirtschaft unter Druck. Doch besetzt sie eine wesentliche Position bei der Dekarbonisierung durch Produktion von Energie und Wärme. Dadurch kommt ihr – dem Artikel zufolge – „eine Schlüsselposition auf dem Weg zur Klimaneutralität 2050“ zu. Die thermische Restmüll-Behandlung sei Deponierung und Export vorzuziehen und werde auch bei Erreichen der Recyclingziele 2023 weiterhin in großem Maße betrieben.
Der vollständige Artikel zu „Perspektiven des Abfallmarkts in Deutschland und den benachbarten EU-Ländern vor dem Hintergrund der Umsetzung des Kreislaufwirtschaftspakets und des Brexits“ ist in Energie aus Abfall – Proceedings 2021, hrsg. von Stephanie Thiel, Elisabeth Thomé-Kozmiensky, Peter Quicker und Alexander Gosten erschienen nur als PDF-Datei verfügbar: www.vivis.de/fachbuecher/bestellformular/.
(Erschienen im EU-Recycling Magazin 09/2021, Seite 24, Foto: Elsemargriet / pixabay.com)