Fachkräftemangel und Kulturwandel: Massive Herausforderungen für die Umweltwirtschaft

Fachkräftemangel und Nachwuchssorgen, dazu die Corona-Pandemie, die die Arbeitswelt gehörig durcheinanderwirbelt – die Herausforderungen für die Entsorgungs- und Recyclingbranche sind enorm. Dabei gehört der Sektor zur kritischen Infrastruktur, besitzt somit gesellschaftspolitisch höchste Bedeutung. Doch vor allem für die mittelständischen Unternehmen in der Umweltwirtschaft wird es schwer, sind Experten überzeugt.

Fest steht: Viele Berufe im gewerblichen Bereich der Entsorgungs- und Recyclingbranche sind nicht „Homeoffice-fähig“. Doch gibt es – das belegt eine Studie aus dem Jahr 2019 –
auch für diese Branche durchaus Potenzial für das Arbeiten von zuhause. Damit könnte die Branche auch den Bedürfnissen vieler Nachwuchskräfte entgegenkommen; allerdings sind aus Sicht erfahrener Personal- und Managementberater vor allem die kleineren und mittelgroßen Unternehmen der Branche nicht auf diesen Wandel vorbereitet. Konsequenz: Die Entsorgungs- und Recyclingbranche verliert im Wettbewerb zu anderen Wirtschaftszweigen ein Stück Attraktivität; der Personalmangel verschärft sich.

Flexibilität und Kultur in den Unternehmen werden immer wichtiger
65 Prozent der Unternehmen in Deutschland wollen nach einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung EY flexible Arbeitszeitmodelle auch nach der Pandemie beibehalten. „Das ist eine kluge Entscheidung“, ist sich Personalberater Thomas Tettinger sicher. „Denn der Bedarf an Fachkräften steigt weiter, und der Markt hat sich inzwischen komplett zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gedreht: Sie suchen sich aus, wo sie arbeiten wollen.“

Dabei wird die Unternehmenskultur immer wichtiger für die Entscheidung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. 52 Prozent der Befragten durch EY schließen für sich einen Wechsel zu einem Betrieb aus, bei dem eine positive Unternehmenskultur nicht stark ausgeprägt ist. Die Corona-Pandemie hat das sogenannte Wir-Gefühl in Unternehmen sogar noch weiter gestärkt. „Für Mittelständler in der Entsorgungs- und Recyclingbranche ist das oft noch eine echte Herausforderung“, weiß Tettinger aus seiner Erfahrung aus mehr als 25 Jahren Arbeit in der Branche. Anders als früher noch besitzen Vertrauen, offene Kommunikation und Fairness im Betrieb für Arbeitskräfte einen höheren Stellenwert – gerade für kleinere und mittlere Unternehmen eine echte Herausforderung.

Eine Idee: Tettinger empfiehlt seinen Kunden, mehr auf Remote Work, also die Möglichkeit zum Homeoffice, zu setzen. „In einem sowieso schon knappen und umkämpften Markt erhöht das die Reichweite von Kandidatinnen und Kandidaten. Das ist gerade in den Flächenkreisen ganz wichtig, wo heute schon 70 Prozent der Unternehmen mit Schwierigkeiten rechnen, neue Mitarbeiter zu finden.“ All dies geschieht vor dem Hintergrund, dass bereits jetzt sechs von zehn Kandidaten nicht bereit sind, für eine neue berufliche Herausforderung einen Umzug in eine andere Stadt oder einen anderen Kreis ins Auge zu fassen.

Was also zählt? Da ist vor allem eine konsequente und schnelle Kommunikation der Unternehmen mit den Kandidaten: „Ich habe in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach erlebt, dass Kandidaten abgesprungen sind, weil sie nach einer Woche noch keine Antwort hatten. Und es ging nicht um Geschäftsführer-Posten“, fordert Tettinger mehr Geschwindigkeit im Prozess an.

Geschwindigkeit zählt
Dies gilt besonders in außergewöhnlichen Zeiten. Und Geschwindigkeit ist kein Luxus, sondern sollte laut Tettinger selbstverständlich sein oder werden. Das liegt auch an der Konkurrenz der großen Wettbewerber: „Die Konzerne in der Branche waren während der Pandemie schneller in der Lage, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. Ihre technische Ausstattung und Infrastruktur mit Servern, Laptops usw. ist besser; die großen Unternehmen sind digital deutlich aktiver“, berichtet Organisations- und Managementberaterin Judith Müller aus ihrer aktuellen Praxis. Sie hat in den vergangenen Jahren mehrere Jahre Standorte eines großen Entsorgers geleitet und berät seit Kurzem branchenübergreifend Unternehmen. Dabei hat sie vor allem die Fragen um Nachwuchskräfte aus den sogenannten Generationen Y und Z im Blick – also die Arbeitskräfte von morgen.

Auch dieser Blick auf diese jüngere Generation ist dringend nötig. Denn das Durchschnittsalter der Mitarbeitenden in deutschen Entsorgungs- und Recyclingunternehmen liegt aktuell bei 50 Jahren, wie eine Untersuchung des INFA-In­stituts feststellte. „Ein Beleg dafür, dass hier die Nachwuchsförderung noch nicht vollumfänglich umgesetzt wird. Viele Unternehmen haben da reichlich Luft nach oben“, moniert Müller die nach wie vor zu beobachtende zögerliche Haltung von Unternehmensinhaberinnen und -inhabern. Ein gefährliches Zögern.

Doch Judith Müller sieht einen Ausweg – und der hat durchaus auch etwas mit der Sinnhaftigkeit der Arbeit zu tun, die die Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft bietet: „New Work, also räumlich und auch zeitlich flexible Arbeitsmodelle, attraktive Büroarbeitsplätze, mehr Eigenverantwortung usw. wären eine Chance, junge Mitarbeiter zu gewinnen. Mit ihrer hohen Relevanz für den Umwelt- und Klimaschutz trifft die Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft nämlich in dieser Zielgruppe schon den Nerv der Zeit.“

Mittelständische Unternehmen sind besonders gefordert
Allerdings bleiben für die Personalplaner noch erhebliche Aufgaben zu erfüllen, ist sich Müller sicher: „Wenn die mittelständischen Unternehmen jetzt nicht an modernen Personalkonzepten arbeiten, werden sie zukünftig nicht mehr ausreichend neues Personal anwerben können. Und auch das Bestandspersonal wird sich auf die neuen Möglichkeiten im Markt einstellen und neu orientieren. Der Mittelstand der Entsorgungswirtschaft wird aussterben, wenn er sich nicht mit dem Thema New Work beschäftigt!“ Und sie liefert weitere Ideen: Jedes Unternehmen müsse ein individuelles Konzept erarbeiten, das zu seiner Unternehmenskultur passt, empfiehlt Müller. „New Work bindet die Arbeitnehmer emotional an die Unternehmen.“

Mitarbeitende bräuchten künftig vor allem mehr Freiräume; gute und faire Gehaltszahlungen seien nicht mehr alleinige Grundlage für zufriedene Arbeitnehmer. Das gilt besonders für Führungskräfte: Laut aktuellem Manager-Barometer 2021-2022 von Odgers Berndtson sind über 96 Prozent der befragten Manager stark oder sehr stark durch die Bedeutsamkeit ihrer Aufgabe motiviert „Die Sinnhaftigkeit der Aufgabe (58,9 Prozent) hat als wichtigster Motivator den Einsatz der persönlichen Stärken und Begabungen am Arbeitsplatz (57,8 Prozent) überholt, der in den Vorjahren stets die Nummer 1 unter den Karrieremotivatoren war. Er liegt diesmal etwa gleichauf mit der Freude an der Führungsaufgabe (57,1 Prozent).“

In der Pandemie steigt die Wechselbereitschaft
Aber nicht nur die Frage nach der Sinnhaftigkeit, bei der die Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft gute Karten hat, stellt eine Herausforderung im Kampf um die besten Köpfe und Hände dar. Auch die in den vergangenen zwei Jahren gestiegene Wechselbereitschaft von Managern ist hier relevant. Das Manager Barometer stellt fest: „Waren 2019 noch 40,7 Prozent der befragten Manager:innen wechselbereit, schnellte dieser Anteil mit Beginn der Pandemie 2020 auf 55,5 Prozent hoch. In der aktuellen Umfrage 2021 ist die hohe Wechselbereitschaft geblieben. 51,9 Prozent der Befragten hielten es für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich, dass sie die Position wechseln. In den Jahren zuvor lag die Wechselbereitschaft relativ konstant bei 40 Prozent.“ Über die Hälfte aller Manager:innen seien aktuell wechselbereit – der Kampf um die Führungskräfte von morgen könnte also noch härter werden.

Personalberater Thomas Tettinger empfiehlt seinen Mandanten darum, dringend auch außerhalb des Personals zu investieren: „Homeoffice und digitale Meetings gehören inzwischen zum Standard. Wer seine Manager halten will, muss ihnen neben einer guten Unternehmenskultur, Sinnhaftigkeit und einem angemessenen Gehalt auch zeitgemäße Technik zur Verfügung stellen. Das kostet, ist aber unausweichlich.“ Fast alle der von Odgers Berndtson befragten Führungskräfte haben Erfahrung mit hybridem Arbeiten. Auch neun von zehn Mitarbeitenden haben danach bereits hybrid gearbeitet. Und: „Mehr als 80 Prozent der Führungskräfte und gut zwei Drittel der Mitarbeitenden können zumindest teilweise selbst über ihren Arbeitsort entscheiden.“

Selbst das Onboarding ohne persönliches Kennenlernen ist nach den Erkenntnissen von Oders Berndtson inzwischen akzeptiert: „Für Manager:innen, die während der Pandemie auf eine andere Position gewechselt haben, fanden die Einstellungsgespräche überwiegend (51,5 Prozent) teils virtuell, teils in Präsenz statt. Bei 41,5 Prozent verlief der Prozess komplett in virtuellen Umgebungen. Beide Vorgehensweisen wurden als angenehm empfunden.“

Wettbewerb um die besten Köpfe wird kosten – so oder so
Für das Management bedeute mehr Homeoffice allerdings auch mehr Aufwand, betont Tettinger mit Blick auf die Ergebnisse des Manager-Barometers. Das verändere die Rolle der Führungskräfte und die Anforderungen an die Kommunikation in den Unternehmen. „Vor allem für die Mittelständler in der Umweltwirtschaft wird diese Entwicklung sehr anspruchsvoll sein“, blickt der Personalberater in die Zukunft. Das gelte ganz besonders für den Umgang mit der Generation Y: Die setzt auf Karriere und hohe Vergütung, legt aber andererseits auch großen Wert auf ihr Privatleben. Zugleich mache sie weniger Zugeständnisse; hybrides Arbeiten ist für sie selbstverständlich.

Das hat Auswirkungen auf die Branche, insbesondere die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen: Der Personalkostenanteil liegt in der personalintensiven Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft schon heute bei circa. 20 Prozent; durch den sich verschärfenden Wettbewerb und die sich eröffnenden Möglichkeiten für Bewerber gerade aus dem Bereich Management dürfte dieser Anteil in den kommenden Jahren noch steigen, erwartet Thomas Tettinger. Er ist sich sicher: „Für viele Unternehmen wird das eine massive Herausforderung. Die Existenz von Unternehmen wird sich am Angebot für die bestehenden und für die künftig Mitarbeitenden entscheiden.“

Autor: Michael Block, www.michaelblock.de, Politologe, selbstständiger Kommunikationsberater und PR-Praktiker, früher Pressesprecher, Leiter Unternehmenskommunikation, Chefredakteur

(Erschienen im EU-Recycling Magazin 02/2022, Seite 18, Foto: O. Kürth)

 

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