Internationaler bvse-Altpapiertag: Altpapiermärkte in turbulenten Zeiten

Als der bvse-Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung e.V. am 24. März seinen 24. Internationalen Altpapiertag in Berlin als Präsenz- und Online-Tagung durchführte, spürte die Branche längst die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine.

Dazu zählen laut Werner Steingaß, dem Vorsitzenden des Fachverbandes Papierrecycling, nicht nur gestörte Lieferketten und Handelsströme sowie Produktionsstopps, sondern auch „explodierende“ Energiepreise. „Die Staatsverschuldung wächst rasant. Menschen flüchten in Europa vor Tod und Zerstörung“, sagte er in seiner Eröffnungsrede. „Wir müssen uns alle auf extrem unsichere Jahre einstellen. Persönlich. Politisch. Geschäftlich.“

Werner Steingaß: Die letzten 24 Monate haben deutlich gemacht, dass sich die Alt­papierbranche auf außergewöhnliche schwierige Situationen einzustellen vermag (Foto: bvse)

In diesem Zusammenhang würdigte er auch die Initiative der Branchenunternehmen, der Bevölkerung der Ukraine zu helfen, indem sie Hilfstransporte unterstützten oder selbst durchführten, Sachspenden sammelten, Unterkünfte für Flüchtende organisierten oder Geld spendeten. Zuvor hatte er sein Entsetzen beschrieben: „Bis vor vier Wochen hat die Covid-19-Pandemie und deren Auswirkungen die Welt schwer beschäftigt und in Atem gehalten. Was allerdings seither darüber hinaus durch den fürchterlichen Angriffskrieg gegen die Ukraine passiert ist, ist unfassbar und mit Worten nicht zu beschreiben. Schrecklichste Bilder erreichen uns heute im Jahr 2022 mitten aus Europa, unmittelbar von den Grenzen des Nato-Gebietes, und niemand kann derzeit ausschließen, dass dieser Krieg weiter eskaliert. Ich wünsche mir, dass es den Verantwortlichen der Bundesregierung und der Nato auch weiterhin durch bedachtes, kluges und konsequentes Handeln gelingt, eine Eskalation zu verhindern. Ich wünsche mir auch, dass drastische wirtschaftliche Sanktionen kurz-, mittel- und langfristig dazu führen, Aggressoren und Verbrecher zu isolieren, um auch hierdurch die Verteidigung von Demokratie und Freiheit zu gewährleisten.“

Schwieriges Marktumfeld
In seiner Rede betonte Steingaß, die zurückliegenden zwei Jahre der Corona-Pandemie hätten gezeigt, dass sich die Altpapierbranche auf außergewöhnlich schwierige Situationen einstellen könne. „Trotz massiver Beeinträchtigungen durch reduzierte Sammelmengen in Europa und Herunterfahren verschiedener Wirtschaftsbereiche konnten wir uns als systemrelevant anerkannte und professionell agierende Unternehmen erfolgreich in den nationalen und internationalen Märkten behaupten“, sagte er. „Unser Know-how machte es möglich, Altpapier dem massiv gestiegenen Bedarf entsprechend zu erfassen, aufzubereiten und den Papierherstellern zu liefern.“

Nach der vorläufigen Statistik des Verbandes der Europä­ischen Papierindustrie CEPI (Confederation of European Paper Industries) verbrauchten die deutschen Papierfabriken im Jahr 2021 insgesamt 18,3 Millionen Tonnen Altpapier, was einer Steigerung von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutete. Bei einer produzierten Menge an Neupapier von 23,1 Millionen Tonnen entspreche dies einer Altpapiereinsatzquote von 79 Prozent, so der Vorsitzende des bvse-Fachverbandes Papierrecycling. Zum Vergleich: Die 18 CEPI-Länder*) erreichten in Europa eine Einsatzquote von 56 Prozent. Der Altpapierverbrauch betrug 50,5 Millionen Tonnen (plus 5,3 Prozent gegenüber 2020), während die Papierproduktion mit 90,2 Millionen Tonnen die Produktion des Vorjahres um 5,8 Prozent übertraf.

Im gleichen Zeitraum sind den Angaben zufolge die Altpapierimporte nach Deutschland auf 5,3 Millionen Tonnen gestiegen und die Exporte auf 1,7 Millionen Tonnen gesunken, sodass hieraus ein Nettoimport von 3,6 Millionen Tonnen resultierte. Steingaß erinnerte daran, dass vor zwei bis drei Jahren die Nettoimportmenge noch unter zwei Millionen Tonnen gelegen hatte.

Positives und Negatives
Des Weiteren hob Werner Steingaß hervor, dass die öffentliche Diskussion zu den Themen Kreislaufwirtschaft und Klimaschutz die Prioritäten in der Gesellschaft sowie der Wirtschaft verändert hat. Es sei bislang eine deutlich zunehmende Investitionsbereitschaft spürbar, die für die Schaffung neuer Recycling- und Entsorgungsanlagen sowie für die Modernisierung beziehungsweise den Ausbau bestehender Anlagen benötigt werde.

bvse-Hauptgeschäftsführer Eric Rehbock sprach über ein neues Verbandsprojekt, das den Beitrag des Wirtschaftszweigs zum Klimaschutz dokumentieren soll (Foto: bvse)

Allerdings sehe der bvse die erfolgreiche Arbeit der Altpapierbranche durch die drohende Einschränkung des freien Handels mit aufbereitetem Altpapier gefährdet. Exporte von qualitativ behandelten, normierten Rohstoffen aus dem Recycling seien ein unerlässliches Regulativ für die innereuropäischen Märkte, betonte er. Eine Beschränkung der Exporte durch die EU-Kommission zu einem Zeitpunkt, zu dem es in Europa keine ausreichende Nachfrage für die Verwendung von Rohstoffen aus dem Recycling gebe (wie beispielsweise Altpapier), führe zur Wertminderung dieser Materialien. Dies wiederum verursache negative Auswirkungen auf die getrennte Sammlung und damit auf die Recyclingquoten.
An die EU-Kommission gerichtet fordert der Verband nach den Worten von Werner Steingaß daher dringend, den freien Welthandel mit qualitativ aufbereitetem Altpapier nicht zu gefährden. Fakt sei, es brauche „weltweit Altpapier wie noch nie; Altpapier ist die wichtigste und vor allem auch die nachhaltige Quelle für die Papierindustrie weltweit. Jährlich werden über 250 Millionen Tonnen für die Papier- und Pappeproduktion rund um den Globus eingesetzt. Die Tendenz ist steigend, und mit geschätzt einer Milliarde Tonnen CO2-Einsparpotenzial spielt das Altpapierrecycling auch eine erhebliche Rolle bei den internationalen Bemühungen zur Bekämpfung der Klimakrise und dem politischen Willen nach grünen Lösungen.“

 

bvse-Projekt: CO2-Reduktion sichtbar machen

Den Internationalen Altpapiertag nutzte bvse-Hauptgeschäftsführer Eric Rehbock, um von einem neuen Vorhaben der Branchenvereinigung zu berichten, das den Beitrag des Wirtschaftszweigs zum Klimaschutz verdeutlichen soll. Das Verbandsprojekt ist vorgesehen, um die Erzeugung von Kohlendioxid (CO2) und dessen Reduzierung in der Recyclingwirtschaft zu dokumentieren.

Für den Sektor „Abfallwirtschaft und Sonstiges“ sei im Bundes-Klimaschutzgesetz (2021) für das Jahr 2030 eine Höchstgrenze von vier Millionen Tonnen CO2-eq festgelegt (CO2 Äquivalent bzw. CO2-eq ist ein Maß, das verwendet wird, um die Emissionen verschiedener Treibhausgase auf der Grundlage ihres „Globalen Erwärmungspotenzials“ zu vergleichen). Und bis 2050 sei das Ziel eine weitgehende Klimaneutralität über alle Sektoren, erläuterte Rehbock. Zur Erreichung dieser anspruchsvollen Gesamtreduktion sei ein Ausbau der Kreislaufwirtschaft zwingend erforderlich. Mehr noch, die Kreislaufwirtschaft könne nicht nur klimaneutral werden, sondern auch Treibhausgase vermindern. Durch den Einsatz von Sekundärrohstoffen würden schon jetzt 50 Millionen Tonnen CO2-eq eingespart; mit verschiedenen Stoffströmen und Verfahren der Entsorgungs- und Kreislaufwirtschaft könne die Reduzierung künftig 100 Millionen Tonnen CO2-eq betragen.

Das bvse-Projekt soll für verschiedene Stoffströme CO2-Bilanzen über die gesamte Wertschöpfungskette von der Herstellung und dem Transport der Rohstoffe/Vorprodukte über Produktion, Distribution und Nutzung bis hin zu Entsorgung und Recycling zum Ergebnis haben. Ziel ist es, den Verbandsmitgliedern Instrumente an die Hand zu geben für CO2-Bilanzen, Ökobilanzen, Nachhaltigkeitsberichte wie auch für Nachhaltigkeitszertifikate, unterstrich Eric Rehbock.

 

Dynamische Märkte
David Powlson, Direktor der britischen Firma AFRY Management Consulting, informierte über die Dynamik der weltweiten Altpapiermärkte und was die Branche davon in diesen Zeiten erwarten kann. In seinem Vortrag stellte er fest, dass die globale Papierindustrie aufgrund der gesteigerten Nachfrage nach faserbasierten Verpackungen immer noch auf dem Wachstumskurs ist und den Prognosen zufolge im Jahr 2035 insgesamt etwa 503 Millionen Tonnen Papier und Karton erzeugen wird; 2005 betrug die produzierte Menge 368 Millionen Tonnen und 15 Jahre später (2020) 408 Millionen Tonnen. Allerdings gibt es Verschiebungen in den verschiedenen Papierbereichen. Während zum Beispiel 2005 noch rund 38 Millionen Tonnen Zeitungsdruckpapier hergestellt wurden, sank die erzeugte Menge im Jahr 2020 auf 15 Millionen Tonnen. Bis zum Jahr 2035 ist von einem weiteren Rückgang um 5,8 Millionen Tonnen auf neun Millionen Tonnen auszugehen. Ähnliches gilt auch für andere grafische Papiere, deren Produktionsmengen aber nicht ganz so drastisch sinken sollen.

Informierte über die Dynamik der weltweiten Altpapiermärkte: David Powlson (Foto: bvse)

Umgekehrt verhält es sich bei Wellpappenrohpapieren (containerboards): Nach den Angaben erhöhte sich die erzeugte Tonnage von 117 Millionen Tonnen (2005) auf 180 Millionen Tonnen im Jahr 2020. Nach den Prognosen soll die Produktion im Jahr 2035 um 67,5 Millionen Tonnen höher liegen und 247 Millionen Tonnen betragen. Die Kartonherstellung soll zwischen 2020 (51 Millionen Tonnen) und 2035 um 17,5 Millionen Tonnen zunehmen. Parallel zur wachsenden Papiererzeugung wird laut David Powlson auch der Altpapierbedarf steigen und 2035 etwa 320 Millionen Tonnen erreichen. Den Löwenanteil dieses Sekundärrohstoffs (rund 58 Prozent) würden die asiatischen Länder konsumieren. In Europa sei Deutschland das „Epizentrum“ der Papierproduktion, und viele Handelsflüsse für die Altpapiersorten Kaufhausware und Mischpapier rotierten um das Land, berichtete der Experte. Großbritannien bleibe der größte Exporteur. Im Hinblick auf den europäischen Außenhandel sagte er voraus, dass der Nettohandel von derzeit ungefähr fünf Millionen Tonnen im Jahr 2030 etwas niedriger ausfallen werde.

Die Volksrepublik China, die über eine lange Zeit jährlich etliche Millionen Tonnen Altpapier importiert hatte, reduzierte seit 2013 die Einfuhrmengen und hat 2021 lediglich 500.000 Tonnen eingeführt. Wie der Redner berichtete, ist das Land – um den Faserbedarf zu decken, der in diesem Jahr auf fast 112 Millionen Tonnen geschätzt wird – zunehmend auf die inländische Altpapiererfassung und Zellstoffproduktion ebenso angewiesen wie auf die Einfuhr von Marktzellstoff einschließlich Altpapierstoff (recycled pulp).

Die früher von Europa und Nordamerika nach China verkauften Altpapiermengen werden mittlerweile in andere asiatische Staaten exportiert. Allerdings haben mehrere Länder – darunter Indien, Indonesien, Malaysia, Thailand, Südkorea und Vietnam – entweder die Grenzwerte verschärft, strengere Kontrollen eingeführt oder Einfuhrverbote verhängt.

*) Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakische Republik, Republik Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich von Großbritannien.

(Erschienen im EU-Recycling Magazin 05/2022, Seite 54, Autor: Brigitte Weber, Foto: Christian Maurer / stock.adobe.com)