INGEDE-Symposium 2022: Den Deinkern gehen die weißen Recyclingfasern aus

Der Verbrauch und damit die Verfügbarkeit grafischer Produkte sind weiter rückläufig. Gleichzeitig werden weiße Recyclingfasern nicht nur in grafischen Produkten zunehmend genutzt. Mit dem Versorgungsengpass bei grafischen Altpapieren und dessen Ursachen befasste sich unter anderem das diesjährige INGEDE-Symposium am 9. März in München.

Die Fachtagung der Deinking-Branche im Haus der Bayerischen Wirtschaft fand erstmals im Hybridformat statt. „Verfügbarkeit“ und „Qualität“ waren die Schlüsselthemen der Veranstaltung mit schätzungsweise 50 Teilnehmenden im Auditorium. Denn die recycelnde Papierindustrie braucht dringend Rohmaterial: Seit Jahren sinken die Mengen an grafischem Altpapier und schwindet dessen Qualität, die in den Papierfabriken ankommt. Die Corona-Pandemie und aktuell auch der Ukraine-Krieg haben diesen Trend verstärkt. Es werden weniger Zeitungen und Printmagazine gelesen und dafür mehr Online-Medien konsumiert. Allerdings profitieren diese Angebote nicht von mehr Werbung, wie Ralph Dittmann (WKS Druckholding GmbH) in seinem Vortrag auf dem INGEDE-Symposium bestätigte: Trotz Internet & Co. mit Newslettern und Werbemails behauptet sich die Prospektwerbung. Die Herausgeber setzen weiter auf Print und den Postversand an Haushalte. Printwerbung ist nach wie vor die erfolgreichere Werbung.

Studien belegen, dass gedruckte Prospekte, Broschüren, Beilagen, Anzeigenblätter oder Flyer von den Verbrauchern am meisten wahrgenommen werden. „Im Lebensmittelhandel ist der gedruckte Prospekt mit einem Werbebudget-Anteil von gut 50 Prozent Leitmedium im Mediamix“, zitierte Dittmann eine Untersuchung des EHI-Instituts von 2021: „70 Prozent der befragten Marketingverantwortlichen des Lebensmittelhandels halten den Prospekt auch künftig für unverzichtbar, weil er effektiv ist, eine große Reichweite hat und ein umfangreiches Produktangebot auf einen Blick präsentieren kann.“

Axel Fischer (Ingede) und Ralph Dittmann (WKS Druckholding GmbH), v. l. – Foto: Marc Szombathy

Die Altpapier-Zusammensetzung hat sich verändert
Dennoch nehmen der Verbrauch und damit die Verfügbarkeit grafischer Produkte für das Recycling kontinuierlich ab. Nach den Ausführungen von Thomas Krauthauf, Vorsitzender der Internationalen Forschungsgemeinschaft Deinking-Technik e.V. (Ingede), werden weiße Recyclingfasern nicht nur in grafischen Produkten vermehrt genutzt, sondern auch in nicht-grafischen, weißen Papier- und Verpackungssegmenten, in Tissue sowie in technischen Spezialpapieren. Im Jahr 2021 entstanden durch diese Entwicklung in Verbindung mit der raschen Erholung nach dem ersten Corona-Jahr massive Versorgungsengpässe grafischer Altpapiere. Die sich daraus entwickelnden Stillstände bei Herstellern grafischer Recyclingpapieren trugen nicht unwesentlich zu Papierknappheit bei Druckereien bei. Verantwortlich für die Versorgungsengpässe ist laut Krauthauf das Downcycling weißer grafischer Produkte in braune Verpackungsprodukte – insbesondere aus der privaten Haushaltssammlung. Die Altpapier-Zusammensetzung in der Blauen Tonne hat sich verändert, und es sind mehr Fehlwürfe festzustellen. Die Tonnen sind zunehmend mit Verpackungspapieren und nur noch zu 50 Prozent mit Deinkingware befüllt. Sortieranlagen sind auf 60 bis 70 Prozent Deinkingware ausgelegt, und ein bereits zu großer Teil des gesammelten Altpapiers geht an den Sortieranlagen und damit an den Deinking-Anlagen der Papierfabriken vorbei und direkt in die Verpackung. Hier steigt die Nachfrage durch den Online-Handel weiter an.

Thomas Krauthauf (Ingede) – Foto: Marc Szombathy

Der Begriff „Abfall“ sollte verschwinden
Den Deinkern drohen somit die weißen Recyclingfasern auszugehen. Krauthauf äußerte in diesem Zusammenhang auch die Befürchtung, dass Sortieranlagen Altpapier-Lieferungen nur noch gegen Bezahlung annehmen könnten, wie das bei Müllverbrennungsanlagen bereits der Fall ist. Diskutiert wird das schon länger und würde das Deinking und Recycling deutlich verteuern. Thomas Krauthauf sprach sich abschließend dafür aus, dass der Begriff „Abfall“ aus der Gesetzgebung verschwindet: „Abfallverwertungsanlagen sind Produktionsanlagen.“

Magali Frontero, Gründerin und Geschäftsführerin der unabhängigen Umweltberatung Ecophyse und Vize-Präsidentin des Abfallwirtschaftsverbandes Federec, stellte anschließend das Sammelsystem für Altpapier in Frankreich vor, das Sortieranlagen Anreize zur Steigerung der Sortierleistung bietet und über die Verbände Citeo, Adelphe und Leko organisiert wird, die die Interessen der französischen Papier- und Verpackungshersteller vertreten. Systembetreiber sind von den Distributoren gegründete Unternehmen der Privatwirtschaft. Diese werden für die Dauer von fünf Jahren von den staatlichen Behörden mit der Durchführung der Sammlung beauftragt. Dabei können die Lizenzen verlängert werden. Für die Sammlung von grafischen Papieren ist seit 2017 Citeo alleinverantwortlich. Anders als in Deutschland werden in Frankreich auch Papier und Kartonagen im Gelben Sack gesammelt.

Arne Krolle (Ingede) – Fotos Marc Szombathy

Gleichbleibende Qualität und wirtschaftlicher
Der Vortrag von Arne Krolle (Ingede) warb für die Zertifizierung von Sortieranlagen in Deutschland und EU-weit. Das würde mehr Erlös bringen und für weniger Retouren sorgen und damit die Zusammenarbeit der Betreiber mit den Papierherstellern wirtschaftlich optimieren. Nach Auffassung des Experten ermöglicht die Bewertung von Sortierungen über eine neutrale Qualifizierungs-Stelle und -Methode moderne Sortiertechniken und einen Vergleich von nationaler und internationaler Wertstoffqualität.

Die Ausweitung der Ressourcen recycelter Fasern könnte innerhalb der Europäischen Union und auch durch Verwertung von weiteren Sortierströmen die Engpässe der verfügbaren Fasern verbessern, ist Krolle überzeugt: Die Einhaltung der DIN EN 643 und der Ingede-Methoden sicherten gleichbleibende Qualität. Eine Zertifizierung der Prozesse auf der Basis bestehender Erkenntnisse und aktueller Forschung reduziere den Arbeitsaufwand in der Wareneingangskontrolle und ermögliche den gezielten Einsatz definierter Qualitäten. Im Dezember 2021 starteten die INGEDE und die Vereinigung Pack und Wellpappenpapiere (Die Papierindustrie e.V.) ein Evaluations-Projekt, das noch bis zum 31. März 2023 läuft. Als mögliche Forschungspartner werden genannt: Intecus, bifa Umweltinstitut, TU Clausthal, RWTH Aachen und Montanuniversität Leoben.

Detlef Thom (Rowe GmbH) – Foto: Marc Szombathy

„Wer bezahlt die Party?“
Ist Sortieren noch wirtschaftlich? Das hinterfragte Detlef Thom (Rowe GmbH) aus Sicht eines Anlagenbetreibers. Denn die Papiermengen aus Haushaltssammlungen sind rückläufig, während der Anteil an Verkaufsverpackungen und Kartonagen in der Blauen Tonne deutlich zunimmt. Auch ändert sich die stoffliche Zusammensetzung der Verpackungen. Durch die Digitalisierung gehen Prospekte, Werbebeilagen, Zeitschriften und Zeitungsdrucke massiv zurück. Funktional beschichtete Papiersorten (Composites) finden sich immer häufiger in der Sammlung wieder.

Die Preisunterschiede zwischen den Sorten Mischpapier, Altwellpappe (OCC) und Deinking nehmen ab, während die Sortierkosten, die derzeit nur von der grafischen Papierindustrie getragen werden, aufgrund des Volumenwachstums und des höheren Sortieraufwandes, steigen. „Wer bezahlt die Party?“ Thom sieht im Sinne der erweiterten Herstellerverantwortung auch die Inverkehrbringer nicht-grafischer Papiere und anderer Verpackungsmaterialien in der Pflicht, sich an den Kosten für die Sortierung, Aufbereitung, Verwertung und Entsorgung zu beteiligen: „Wenn es keine Regularien gibt, wird es eine Scheinsortierung geben.“ Trittbrettfahrer im Online-Handel hätten weiter leichtes Spiel, weshalb Thom auch eine Verpackungssteuer für notwendig erachtet. Sortierung sei sinnvoll, um Stoffströme wieder in den Urzustand zu bekommen, und sollte in spezielle Anlagen erfolgen und nicht von den Papierfabriken direkt geleistet werden.

Viel Farbe auf wenig Fasern
Dennis Voß (Steinbeis Papier) stellte Untersuchungen der INGEDE zur Deinkbarkeit von Prospekten und Broschüren vor. Besteht ein Zusammenhang mit dem steigenden Anteil an Werbedrucksachen im Altpapier mit viel Farbe auf dünnem Papier? In den vergangenen Jahren beobachteten immer mehr Mitglieder der Forschungsgemeinschaft Veränderungen in der Performance der Deinkingprozesse: sinkende Weißgrade und Probleme, die Zielwerte nach der Aufbereitung überhaupt zu erreichen. Da dies in verschiedenen Unternehmen auftritt, kann ein einzelnes Prozessproblem ausgeschlossen werden: Es muss mit dem verfügbaren Rohstoff Altpapier zusammenhängen. In den normalen Deinking-Mischungen und Haushaltssammlungen sind anteilig zunehmend Werbeprospekte und Broschüren zu finden, die vollflächig farbig bedruckt sind – auf dünnem Papier. Es zeigt sich viel Farbe auf wenig Fasern. Um festzustellen, ob sich die Deinkbarkeit von Prospekten und Broschüren in den letzten Jahren geändert hat und die Probleme in den Deinkinganlagen unter Umständen auf diese Änderungen zurückzuführen sind, untersuchte die INGEDE gezielt ausgewählte Broschüren, um mögliche Einflussfaktoren definiert zu variieren. Im Ergebnis konnte aber kein direkter Einfluss der Papiersorte und keine direkte Beeinflussung durch Aschegehalt oder Entaschung während der Flotation festgestellt werden. Auch sind schlechtere Ergebnisse für verschiedene Drucktechniken sichtbar. Das Deinking-Potenzial wird bestimmt durch das „Ausgangsniveau“, die Leuchtkraft nach Zerfall (UP) und die Möglichkeit des Leuchtkraftgewinns während der Flotation (DP – UP). Diese wird stark beeinflusst von Druckbild, Farbenmenge und dominierenden Farben (Farbton a*). Eine hohe Druckmenge fordert die Farbentfernung während der Flotation heraus. Unter bestimmten Bedingungen ist auch die Überführung in Prozesswasser (Filtrat-Dunkelung) möglich.

Dauerhaft einsetzbar in Druckereien?
Seit 2016 arbeitet das Fogra Forschungsinstitut für Medientechnologien e.V. an der Markteinführung von mineralölfreien Coldset-Farben. Philipp Stolper (Fogra) berichtete über ein Forschungsprojekt, das das Ziel verfolgte, zwei Farbserien für den dauerhaften Einsatz in Druckereien zu entwickeln. Dies sollte durch dreimonatige Praxisversuche nachgewiesen werden. Neben der Anwendbarkeit lag ein Schwerpunkt auf der Deinkbarkeit der Produkte sowie auf der Analyse der Mineralölgehalte nach der BfR-Methode. Die neu entwickelten Druckfarben wurden in der Druckmaschine der Frankfurter Societäts-Druckerei eingesetzt; somit wurde die Funktionalität nur auf einem Coldset-Maschinentyp getestet.

Erste Druckversuche auf der Coldset-Maschine begannen 2018; seitdem wurde die Deinkbarkeit durch Anwendung der Ingede-Methode 11 auf Druckmuster aus der Coldset-Maschine überwacht. Im Jahr 2020 waren die Druckfarben bereit, in einem Langzeitversuch für drei Monate eingesetzt zu werden. Während dieser Zeit wurde die Deinkbarkeit regelmäßig überprüft. Zusätzlich konnten identische Druckmuster mit den konventionellen Farben eines Farbherstellers hergestellt werden. Für diese Deinkbarkeitstests wurden zwei Papiersorten verwendet, eine mit 50 Prozent DIP und eine, die aus 100 Prozent DIP bestand. So war es möglich, die Deinking-Eigenschaften der mineralölfreien Druckfarben mit denen der konventionellen, mineralölbasierenden Druckfarben zu vergleichen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Deinkbarkeit von mineralölfreien Coldset-Farben noch nicht vollständig gelöst ist und weitere Anstrengungen unternommen werden müssen, um dieses Ziel zu erreichen.

Detlef Eichhorn (Consultingtalents) – Foto: Marc Szombathy

Was künstliche Intelligenz leisten kann
In 2021 startete das Verbundprojekt ODiWiP von Softeware-Entwickler Consultingtalents, Leipa Group, Fraunhofer-Institut Dresden (IVV-DD), Universität Siegen (IPEM) und Tomra Sorting. Näheres dazu war von Detlef Eichhorn (Consultingtalents) zu erfahren. ODiWiP steht für: Optimierung durch Digitalisierung des Wertstoffkreislaufs in der Papierindus­trie, basierend auf dem Einsatz moderner KI-Tools. Das Projekt ist Teil der FONA-Initiative (Forschung für Nachhaltigkeit) des Bundesministeriums für Forschung und Bildung. Ziel ist die Optimierung durch Digitalisierung und Nutzung von künstlicher Intelligenz im Papierwertschöpfungskreislauf: von der Sammlung und Sortierung des Altpapiers über den Transport zur Papierfabrik bis hin zur Aufbereitung und eigentlichen Papierproduktion und der Versandlogistik. Beim Industriepartner wird der Prototyp eines selbstlernenden digitalen Assistenzsystems mit KI- gestützter Prognose entwickelt.

Um ein Wertstoffpotential abschätzen zu können
Wie Smart-Technologien auch zur Charakterisierung von Stoffströmen in Sortieranlagen eingesetzt werden können, zeigte Victor Reutenauer (Fotonower) auf. Alena Spies (RWTH Aachen) gab außerdem einen Einblick in das Forschungsprojekt EnEWA (Energieeinsparung bei der Papierproduktion durch Erschließung der Wertschöpfungsketten Altpapier aus Leichtverpackungen, Restabfall und Gewerbeabfall), das das Ziel verfolgt, Papierfasern aus gemischten Abfallsammlungen im Sinne einer Circular Economy in den Papierkreislauf rückzuführen. Im Vordergrund stehen dabei Verbundverpackungen mit einem Anteil an papierfremden Material von über fünf Prozent sowie Fehlwürfe der Verbraucher. Um ein Wertstoffpotential abschätzen zu können, muss zunächst eine Materialcharakterisierung von PPK aus Leichtverpackungen, Restabfällen und Gewerbeabfällen erfolgen. Dabei werden insbesondere vorhandene Störstoffe für die Papierproduktion identifiziert und ein Bewertungskatalog für die möglichen Wertstofffraktionen im Hinblick auf die nötige zusätzliche Sortierung und Aufbereitung erstellt.

Anne-Katrin Klar (Essity GmbH) – Foto: Marc Szombathy

Des Weiteren präsentierte Ulrich Leberle (CEPI) eine Studie zum Stand der getrennten Wertstoffsammlung und zu EPR-Systemen in den EU-Mitgliedstaaten. Jürgen Belle von der Hochschule München (Verfahrenstechnik Papier und Biofasern) informierte über neue Materialentwicklungen aus nachwachsenden Rohstoffen, und wie diese zum Beispiel in Verpackungen zum Einsatz kommen könnten. Peter Hengesbach (Stora Enso) befasste sich mit Verpackungen auf Basis weißer Frischfaser, die nach den Erkenntnissen ein potenzieller Rohstoff für die Deinkinganlagen sind, und Almut Reichart (Umweltbundesamt) belegte mit einer neuen Studie, dass die Herstellung von grafischen Papieren aus Recyclingfasern umweltfreundlicher ist, als wenn dafür Frischfaser verwendet werden.

Zu guter Letzt stellte Anne-Katrin Klar (Essity GmbH) den „Tork PaperCircle“ vor. Damit schließt sich der Kreislauf für Papierhandtücher: „Der Tork PaperCircle ist ein einzigartiger, preisgekrönter, kreislauforientierter Service, der Abfälle in neue Ressourcen umwandelt und gleichzeitig die Kohlenstoffemissionen für Papierhandtücher reduziert. Er bezieht viele Akteure entlang der Recycling-Wertschöpfungskette ein und baut auf einer starken Partnerschaft auf.“ Der Service wird den Angaben nach von mehr als 130 Kunden in zehn verschiedenen Märkten genutzt und schaffe für alle Beteiligten einen Mehrwert.

(Erschienen im EU-Recycling Magazin 05/2022, Seite 62, Foto: Landratsamt Kitzingen / studio zudem)

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