Medizinische Abfälle: Thermochemisches Recycling gegen Kunststoffberge
Der Bedarf an medizinischen Einmal-Verbrauchsmaterialien ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Allein die Covid-Pandemie sorgte 2022 weltweit für zusätzlich über 2.600 Tonnen an gebrauchten Gesichtsmasken pro Tag. Dennoch sind gegenwärtig noch keine Methoden zum Recycling medizinischer Abfälle, die vielfach Kunststoffe enthalten, auf dem Markt.
In Kreislaufwirtschafts-Strategien werden medizinische Abfälle oftmals übersehen. Dennoch enthalten Einwegartikel im Gesundheitssektor normalerweise verschiedene Arten von Kunststoffen, die mit der heutigen Technologie nicht recycelt weden können. Zudem ist nicht auszuschließen, dass die Medizinabfälle nach Gebrauch kontaminiert sind und folglich behandelt werden müssen, um eine Verbreitung möglicher Infektionen zu verhindern. Außerdem ist der Einsatz gebrauchter und recycelter Kunststoffe bei der Herstellung neuer Artikel nicht möglich, da hohe Auflagen für Reinheit und Qualität von Materialien medizinischer Produkte bestehen.
Erhitzen und Umwandeln
Forscher der technischen Hochschule Chalmers im schwedischen Göteborg haben jetzt herausgefunden, wie gemischte medizinische Abfälle auf sichere und effektive Weise recycelt werden können: Indem eine Technik zum Einsatz kommt, mit der das Material erhitzt und in chemische Bausteine umgewandelt wird, die sich bei der Produktion neuer Kunststoffe verwenden lassen.
Die von den Chalmers-Forschern entwickelte Technologie wird „thermochemisches Recycling“ genannt und basiert auf einem Prozess namens „steam cracking“ (Dampf-Aufbruch). Er schlüsselt den Abfall durch Mischung mit Sand bei Temperaturen bis zu 800 Grad Celsius auf. „Es ist vergleichbar mit einem thermischen Vorschlaghammer, der die Moleküle zertrümmert und gleichzeitig Bakterien und andere Mikroorganismen zerstört“, verbildlicht Martin Seemann, außerordentlicher Professor in der Abteilung für Energie-Technologie in Chalmers. „Was übrig bleibt, sind verschiedene Typen von Kohlenstoff und Kohlenwasserstoff-Verbindungen. Diese können dann separiert und in der petrochemischen Industrie genutzt werden, um fossile Materialien, die man gegenwärtig in der Produktion anwendet, zu ersetzen.“
Technologie mit großem Potenzial
In zwei unterschiedlichen Projekten haben die schwedischen Forscher die Technologie in der Praxis getestet. Im ersten Projekt wurden verschiedene Produkte wie Gesichtsmasken und Plastikhandschuhe dem Prozess unterzogen. Im zweiten Projekt geschah das Gleiche mit einer durchschnittlichen Mixtur aus Krankenhaus-Abfällen, die rund zehn unterschiedliche Kunststoff-Materialien sowie Zellulose enthielt. Die Ergebnisse beider Projekte erwiesen sich durchgängig als positiv, was das große Potenzial deutlich macht, das diese Technologie besitzt. Da die resultierenden Materialien in sterilen Artikeln im Gesundheitswesen eingesetzt werden sollen und strikte Anforderungen hinsichtlich Reinheit und Qualität erfüllen müssen, wird das Sortieren und mechanische Recycling von Kunststoffen als grundsätzlich verkehrt erachtet; nicht aber, diese thermochemisch zu recyceln. Gleiches empfehle sich auch für Lebensmittelverpackungen. „Das ist die einzige Option für diese Sorte von Abfällen, um wirklich zirkulär zu werden“, ist Martin Seemann überzeugt. „Es ist so elegant, dass, wenn das Material einmal auf die Molekular-Ebene heruntergebrochen wurde, die chemische Industrie es in einen fabrikneuen Rohstoff zurückverwandeln kann.“ Und Seemanns Kollegin und Projektleiterin Judith González-Arias macht deutlich: „Thermochemisches Recycling betrifft nicht nur das Problem, dass medizinische Abfälle heutzutage nicht recycelt werden, sondern es begünstigt auch die Rückgewinnung wertvoller Kunststoff-Atome.“ Das liege voll auf Linie mit den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft und liefere eine nachhaltige Lösung für das dringliche Problem des medizinischen Abfallmanagements.
Politische Entscheidungen sind gefragt
Dazu wären neue Materialströme und funktionierende Geschäftsmodelle ebenso nötig wie veränderte Gesetze und Regularien auf verschiedenen Ebenen. Seemann ist sich sicher: „Bestimmte politische Entscheidungen könnten den Wert von Kunststoff-Abfällen als Rohmaterial für die Industrie steigern und ebenso die Chancen erhöhen, funktionierende Kreislaufwirtschaft-Modelle für diese Sorte von Recycling zu schaffen. Beispielsweise würde die Anforderung, bei Verbrennung von Kunststoff Kohlendioxid zu speichern, Anreize geben, stattdessen in stärker energeeffiziente, alternative Technologie wie die unsrige zu investieren.“ Viele Länder haben die technischen Voraussetzungen für das Recyceln von Medizin- und anderen Mischkunststoff-Abfällen, aber Regularien und strukturelle Konditionen variieren.
Die Mengen sind vorhanden
In Schweden besteht in den Reihen der Industrie großes Interesse an Recycling, aber Einweg-Artikel aus dem Gesundheitswesen schaffen per se nicht ausreichend Abfallmengen für ein funktionierendes Kreislaufwirtschafts-Modell: Nur rund 4.000 Tonnen von diesem Material kamen 2019 auf den schwedischen Markt. Außerdem bräuchte man, um eine Anlage zu bauen, die die erforderliche Größe für ein profitables thermochemisches Recycling besitzt, vor der Inbetriebnahme einen gesicherten Materialfluss von rund 100.000 Tonnen, schätzt Judith González-Arias. Obwohl diese Mengen in Schweden vorhanden sind, sei mehr nötig als die Weiterleitung von einem Recyclingtyp zum anderen. Auch wären neue Kooperationen verschiedener Akteure für das kommerzielle thermochemische Recycling erforderlich – mit medizinischen Abfällen als Teil des Materialflusses. Gegenwärtig erreicht Schweden noch nicht die Recyclingquote für Kunststoff; der größte Teil der Anfallmengen landet stattdessen in der Verbrennung.
Keine etablierten Verwertungspfade
Solange das „thermochemische Recycling“ noch keine Anwendung findet – und auch darüber hinaus –, empfiehlt sich die Reduktion von Verbrauchsmaterialien. Das gilt insbesondere für Arbeitsabläufe, in denen große Müllmengen wie Windeln, Bettunterlagen oder auch Einmalinstrumente wie Scheren anfallen. Sie bestehen vielfach aus Mischmaterialien, lassen sich selten einer einzelnen Stoffklasse zuordnen und unterliegen bei Entsorgung und Aufbereitung hohen regulatorischen Anforderungen. Obwohl Krankenhäuser als fünftgrößter Müllproduzent in Deutschland gelten, stehen weder hier noch in Europa etablierte Verwertungspfade zur Verfügung.
Das Projekt „SustainMed“ soll hierzu Abhilfe schaffen. Gefördert vom Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg, sind daran die BioRegio STERN Management GmbH, die Novis GmbH, die Freesixtyfive GmbH aus Bad Kreuznach und eine Abteilung der BG Klinik Tübingen beteiligt. Insgesamt stehen rund 500.000 Euro zur Verfügung, um ein Nachhaltigkeitsprogramm für die Gesundheitsindustrie zu entwickeln.
SustainMed: Potenziale herausarbeiten
Durch Abfallanalysen, Prozessbeobachtung, Teilnehmer-Befragung und Sekundäranalysen im Krankenhaus werden zunächst die Anforderungen der Akteure aus Medizintechnikindustrie und Krankenhäusern erhoben, um Potenziale für die Vermeidung und Wiedernutzung von Produkten herauszuarbeiten. Die Ergebnisse münden in vereinfachte Kreisläufe zur Reduktion von Material und zur Steigerung von Recyclingquoten. Des Weiteren sollen zusammen mit mit Pflegepersonal, Ärzten, Management, Einkauf und Herstellern standardisierte und einfache Bewertungskonzepte für Entwicklung und Einsatz nachhaltiger Produkte konzipiert und eingeführt werden.
Nach Darstellung von Dr. Thomas Helle, dem Geschäftsführer der Novis GmbH, soll im Projekt SustainMed insbesondere die Nutzungsintensivierung von Produkten „durch die Wiederverwendung von gebrauchten Gütern im Gesamten oder in Teilen, durch Remanufacturing, Instandhaltung, Reparatur, Modernisierung oder kaskadische Nutzung“ untersucht werden. Auch will man Potenziale für das Produktdesign, etwa durch Verwendung von Sekundärrohstoffen, Substitution von problematischen Materialien, Modularität und bessere Reparierbarkeit, nutzbar machen. Das Ziel ist die frühzeitige Einbindung der Medizintechnikindustrie in den Prozess – Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung einer „umfassenden Lösung in der Gesundheitsindustrie“.
chalmers.se, bioregio-stern.de
(Erschienen im EU-Recycling Magazin 09/2024, Seite 10, Foto: mtmmarek / stock.adobe.com)