Der Kampf um die richtigen Regeln
Gedanken über eine Ökosoziale Marktwirtschaft: Auf dem zurückliegenden Baustoff Recycling Forum und 5. bvse-Mineraliktag in Berchtesgaden in diesem Jahr hielt Franz Josef Radermacher einen bemerkenswerten Vortrag zur weltpolitischen Lage, die als extrem schwierig angesehen wird.
So gestalte sich das politisch-gesellschaftliche Umfeld zunehmend unübersichtlich. Im Kontext des Weltbevölkerungswachstums und der großen Verwerfungen in den Bereichen Energie und Klima – und damit verbunden der Thematik der Decarbonisierung – stellt sich für Radermacher die Frage der Zukunft: „Wenn sie überhaupt noch positiv gestaltet werden soll, werden technische Innovationen und kluge politische Aktivitäten erforderlich sein, um das Ziel zu erreichen.“
Franz Josef Radermacher ist Professor für Informatik an der Universität Ulm, Präsident des Senats der Wirtschaft e.V., Vizepräsident des Ökosozialen Forum Europa und Mitglied des Club of Rome. Bekannt geworden ist der Wissenschaftler durch sein Eintreten für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft und Engagement in der Global Marshall Initiative, die sich seit 2003 für eine gerechtere Globalisierung, für eine „Welt in Balance“ einsetzt. Die Ökosoziale Marktwirtschaft versteht sich gemäß Wikipedia-Definition als Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft, die ein nachhaltiges Wirtschaften und den Umweltschutz als politische Kategorien einbezieht. Angestrebt wird ein Ausgleich zwischen ökonomischen und ökologischen Zielsetzungen. Und das mit marktwirtschaftlichen Praktiken – statt Verboten und Geboten – und mit flachen Hierarchien (siehe auch Kasten). Fünf Parameter liegen der Forschung zugrunde.
■ Bevölkerung (Anzahl der Menschen/Wachstumsdynamik): Wie groß ist die Bevölkerung in den verschiedenen Teilen der Welt?
■ Wohlstand: Was produzieren wir an Gütern und Dienstleistungen (verteilt nach Staaten und Kontinenten) und wie ist der Wohlstand verteilt (entscheidend für das Funktionieren von Gesellschaften)?
■ Ressourcen: Es gibt keinen Wohlstand ohne (bestimmte) Ressourcen. Man muss Zugriff auf (bestimmte) Ressourcen haben.
■ Handelssystem: Wer hat Zugriff auf (bestimmte) Ressourcen?
■ Technischer Fortschritt: Die Größe, mit der Dinge verbessert werden können – in einer Situation, in der alles andere wächst.
Der Bumerang-Effekt: Je mehr Fortschritt, desto mehr Probleme
Laut Radermacher produzieren immer mehr Menschen immer mehr Wohlstand. Also verbrauchen wir in der Tendenz immer mehr Ressourcen. Aber dagegen läuft der technische Fortschritt, denn „der erlaubt uns, aus weniger mehr zu machen. Der technische Fortschritt ist unser Ventil. Mit dem Ventil gibt es aber ein Problem: den Bumerang-Effekt. Der technische Fortschritt hat oft zur Folge, dass Dinge billiger werden. Weshalb man in der Folge noch mehr von dem verbraucht, von dem man jetzt eigentlich weniger verbrauchen würde. So hilft es zum Beispiel wenig, wenn die Autos pro PS weniger Benzin verbrauchen. Weil wir dann einfach mehr PS machen. Wir hauen hinten wieder das drauf, was wir vorne einsparen. Der Bumerang-Effekt ist eines der größten praktischen Probleme, mit dem man sich beschäftigen muss.“
Anderes Beispiel: Städte versuchen drohende Verkehrsinfarkte dadurch zu lösen, dass sie extra Straßen bauen. Die Folge ist aber womöglich noch mehr Verkehr. Indem neue Straßen gebaut werden, kommt der latente Verkehr sofort zum Zug und findet dann statt. Das heißt, der Pegel an Aktivität wird größer. „Deswegen sind die Probleme nicht nur dahingehend zu lösen, dass man auf den technischen Fortschritt setzt. Er ist wichtig, aber wenn man den Bumerang-Effekt nicht verhindert, dann kommt man mit dem technischen Fortschritt nicht weiter. Das ist der Grund dafür, warum sich die Menschheit mit immer mehr Fortschritt in immer mehr Problemen befindet. Je mehr Fortschritt wir haben, desto mehr Probleme haben wir“, ist Radermacher überzeugt. Dabei ist für ihn der kritischste Parameter die Bevölkerungsexplosion: „Seit dem Jahr 2000 sind auf der Welt 1,5 Milliarden Menschen dazugekommen. Alle diese Menschen haben Ansprüche, das sind jetzt 1,5 Milliarden mehr Ansprüche. Bis 2050 kommen noch einmal 2,5 Milliarden Menschen dazu.“
Wohlstand für alle: Wie geht das?
Die Agenda 2030 der Weltgemeinschaft erklärt Wohlstand für alle Menschen zum Ziel. Doch wie können zehn Milliarden Menschen potenziell auf ein hohes Wohlstandsniveau gebracht werden? Wohlstand setzt die Verfügbarkeit von Ressourcen und Energie voraus, so Radermacher. Wo soll man die herholen? Noch immer würden hauptsächlich fossile Energieträger genutzt und dadurch das Klimaproblem weiter verschlimmert. Das Klimaproblem produziert nach Auffassung von Radermacher Armut und Armut setzt Kinder in die Welt. Unter den Bedingungen einer Klimakatastrophe würden mehr Menschen auf der Erde leben, die mehr Ressourcen und Energie brauchen.
Das Klimaproblem ließe sich Radermacher zufolge nur durch eine gut ausgebildete Menschheit in Wohlstand auf Basis der Ökosozialen Marktwirtschaft lösen. Doch wie gelangt man dahin? Wohlstand sei von fossiler Energie abhängig, die das Klimaproblem treibt. Schaffen erneuerbare Energien die Wende? Die Umstellung auf erneuerbare Energien setze enorme Ressourcen voraus, um die gerungen wird und über die China sehr viel Kontrolle hat. Beispiel Seltene Erden: „Die Logik sagt, wir müssen vom Carbon weg, aber während wir darüber reden, produzieren wir mehr fossile Energieträger als je zuvor. Die höchste Produktion von Öl war 2017“. Die Vereinigten Staaten seien durch Fracking zum größten fossilen Energieproduzenten aufgestiegen. US-Präsident Donald Trump benutze die fossile Energie als geopolitische Waffe: Preiswerte Energie soll die Industrie in den USA pushen. Preiswerte Energie soll alle Länder, die am Ölverkauf verdienen, in Schwierigkeiten bringen – Russland, Iran, Saudi Arabien. Je mehr Trump produzieren lässt, desto billiger werde die Energie, desto mehr kann er die anderen Öl- und Gasproduzenten unter Druck setzen.
Was können wir uns noch erlauben?
Immer mehr und wohlhabende Menschen brauchen auch immer mehr Nahrung. Wie Radermacher hierzu ausführte, sind die Chinesen Meister in der Überwindung der Armut. Sie emittieren pro Kopf mehr CO2 als die Europäer: 7,5 Tonnen. Die Europäer emittieren pro Kopf 6,8 Tonnen, die Deutschen zehn Tonnen und beispielsweise die Franzosen fünf Tonnen. China verursacht mehr Emissionen als die USA, Europa und Russland zusammengenommen. Indien und Afrika kopierten bereits das Modell von China, das in vier Jahren mehr Beton für Wohnraum verbaut hat als die USA in ihrer gesamten Historie. Und dass was gebaut wird und wurde, so Radermacher, stellt die Hälfte des Wohlstands in der Welt dar: „Dafür sind unvorstellbare Mengen an Rohstoffen vonnöten, die produziert und transportiert werden müssen. Wohlstand ist ohne umbauten Raum nicht denkbar. Und auch nicht ohne Autos.“
In diesem Kontext operierten wir jetzt in einer Politik, die mit objektiven Problemen zu kämpfen hat. Was können wir uns noch erlauben, wenn immer mehr Menschen immer mehr wollen? Radermacher sprach in diesem Zusammenhang vom Gefangenendilemma, ein mathematisches Spiel aus der Spieltheorie: Wir müssen oft das Gegenteil von dem tun, was wir eigentlich tun wollen. In der Marktwirtschaft dominierten Konkurrenzverhältnisse. Es geht um die Kriterien, die der Einkäufer anlegt: „Sehr häufig gehen die Leute nach dem Preis. Wenn einer Dinge vernünftiger macht, aber der andere kann es billiger anbieten, dann wird sehr oft die billigere Lösung genommen, obwohl sie eigentlich die teurere ist. Am Schluss setzt sich die falsche Lösung durch.“
Besser effektiv als nur effizient
Welch ein ökonomisches System wollen wir haben? Im Prinzip wird eine Marktwirtschaft gebraucht. Geht es im Markt nur um Effizienz, wie uns Wirtschaftsexperten weismachen wollen? Das ist zu bezweifeln. Es geht auch laut Radermacher darum, dass das herauskommt, was herauskommen soll. Also um Effektivität. Wir sollten besser effektiv als nur effizient sein: „Was nützt es jemanden, der seine Wand rot anstreichen will, dass heute Gelb im Sonderangebot ist? Der Naive kauft Gelb, weil Gelb im Sonderangebot ist. Wir müssen uns immer mit Effektivität und Effizienz beschäftigen.“
Der unregulierte Markt ist für Radermacher keine Lösung. Der Wettbewerb könne falsche Regeln nicht ersetzen. Der Kampf auf dieser Welt sei der Kampf um die richtigen Regeln. „Seit der Finanzkrise sind wir in diesem Kampf sehr weit“, verdeutlichte Radermacher. „Seit der Finanzkrise gibt es international keinen mehr, der sich für den freien Markt stark macht. Sondern dafür, dass Regeln die Umwelt schützen und sozial ausgewogen sind. Jeder soll partizipieren können.“ Allerdings besteht ein großes Interesse daran, dass es so falsch ist, wie es ist. „Weil am Falschen lässt sich von wenigen ganz viel Geld verdienen“, schlussfolgerte Franz Josef Radermacher. „Weil einem die mathematische Überlegung sagt, es ist besonders attraktiv für die wenigen, ganz viel zu verdienen zulasten der anderen. Wenn viele verdienen würden, ist ja nicht so viel zu verdienen. Also muss das Ziel sein, dass viele verlieren und wenige gewinnen. Dann ist es für die wenigen höchst attraktiv.“ Und das sei das eigentliche Problem in der Welt.
Was will die Ökosoziale Marktwirtschaft?
Radermachers „Ökosoziale Marktwirtschaft“ bezeichnet ein sogenanntes Nachhaltigkeits-Dreieck, das eine Balance zwischen einer leistungsfähigen Wirtschaft, sozialer Fairness und ökologischer Orientierung auf nationaler, europäischer und globaler Ebene vorsieht. Es beruht auf der Ausgeglichenheit von Ökonomie zur Mehrung des allgemeinen Wohlstands, sozialer Ausgeglichenheit zur Sicherung angemessener Lebensbedingungen und der Ökologie. Diese besitzt einen Eigenwert, ist vom Menschen unabhängig und muss Umweltverschmutzung und Übernutzung kritischer Ressourcen vermeiden. Mit Radermachers Worten: „Um den Preis der eigenen Zukunft müssen wir die Umwelt schützen und mit der Ressourcenbasis vernünftig umgehen.“ Dafür schlägt er eine „Terra-Abgabe“ vor, zweckgebunden zur Finanzierung von Investitionen in Infrastruktur und Entwicklungsziele. Werden die Bedingungen des Nachhaltigkeits-Dreiecks nicht weltweit adaequat erfüllt, gerät das gesamte System in Schieflage. Nach Rademachers Ansicht wird die Ökosoziale Marktwirtschaft entweder eine globale Zukunft haben oder gar nicht.
Radermachers Ansatz ist nachzulesen in Franz Josef Radermacher & Bert Beyers, Welt mit Zukunft. Die ökosoziale Perspektive, Hamburg 2014, ISBN 978-3-86774-111-8.
Foto: Marc Szombathy
(EU-Recycling 06/2018, Seite 24)