Abfallwirtschaft in einer turbulenten Zeit

Der öffentliche Teil der bvse-Jahrestagung 2018 in Baden-Baden beleuchtete vor allem die Aussichten der Branche sowie Möglichkeiten von Digitalanwendungen.

„Wir erleben unruhige, turbulente Zeiten in der Politik“, brachte bvse-Präsident Bernhard Reiling die gegenwärtige Situation der Branche auf der Jahrestagung des Verbandes am 27. September in Baden-Baden auf den Punkt. Die interne Umfrage zur Wirtschafts- und Umweltpolitik der Bundesregierung sei noch nie so schlecht ausgefallen, die Übernahmen von Tönsmeier durch die Schwarz-Gruppe und der DSD GmbH durch Remondis stimmten wenig froh, und der Wettbewerbsdruck auf die Dualen Systeme und die Rekommunalisierungswelle würden weitergehen. Hier – so Reiling – müssten ein Sicherheitsnetz eingezogen und Rahmenbedingungen gegen Wettbewerbsverzerrung für den Mittelstand geschaffen werden.

Bevölkerungsentwicklung und Klimawandel

Der in diesem Jahr erschienene Statusbericht der deutschen Kreislaufwirtschaft, den Dr. Jochen Hoffmeister von der Prognos AG anschließend vorstellte, macht deutlich, dass Deutschlands Stärke in einem Technologievorsprung vor anderen Nationen besteht. Allerdings verlangsame sich die Innovationsdynamik, sodass andere Länder aufholen könnten. Hoffmeister wagte aber auch einen Blick in die Zukunft der Kreislaufwirtschaft. Angesichts mehrerer Megatrends beleuchtete er deren Konsequenzen für die Entwicklung der Circular Economy.

So wird beispielsweise die Bevölkerungsentwicklung durch regionale Unterschiede, eine gestiegene Lebenserwartung, einen höheren Prozentsatz an älteren Menschen und die zunehmende Nachfrage nach Ein-Personen-Haushalten Auswirkungen auf Quantität und Qualität der Abfälle haben. Der Klimawandel mit heißeren Sommern und geringeren Niederschlägen – schätzte Hoffmeister – dürfte zu geringeren Abfallgewichten durch Feuchtigkeitsverlust und heftigere Unwetter zu höheren Mengen an Sperrmüll, Bauabfällen und Grünabfällen führen.

Technologieentwicklung und Digitalisierung

Wird eine gesteigerte Wohnmobilität zu einem höheren Sperrmüll-Aufkommen führen oder gerade durch stärker nachgefragtes möbliertes Wohnen senken? Und bewirkt der Wandel in der Arbeitswelt durch Digitalisierung eine stärkere Nutzung des Home-Office und damit einen Anstieg an Kommunalabfällen? Dass angesichts eines zunehmenden Online-Handels die Verpackungsflut in der innerstädtischen Logistik durch Normkisten verhindert werden könnte, ist zumindest vorstellbar.

Eine offene Frage ist, inwieweit Produkte durch Dienstleistungen ersetzt werden – anstelle von Waschmaschinen etwa ein Kontingent an sauberer Wäsche, anstelle von Privatwagen-Besitz mietbare Transferleistungen, anstelle von Glühbirnen zugesicherte Beleuchtungsstunden oder anstelle von Tages- oder Wochenzeitungen aktuelle Informationen. Die Sharing Economy steht für geringeren Ressourcenverbrauch und bedingt durch Vermietung ein höheres Interesse der Dienstleister an funktionalen, langlebigen, möglichst wenig reparaturanfälligen und abfallarmen Angeboten. Technologieentwicklung und Digitalisierung tragen dazu bei: 3D-Drucker sind schon heute in der Lage, Häuser fast ohne Abfälle zu konstruieren, Drohnen vermeiden Verpackungsabfälle, indem sie Waren in Kunststoffkisten ausliefern, und VR-Brillen für Virtuelle Realität machen Fernseher, Radios oder CD-Player überflüssig.

Veränderungsmöglichkeiten

Christian Baudis, ehemaliger Geschäftsführer von Google Deutschland, ging zwar so gut wie nicht auf mittelfristige Perspektiven der Abfallwirtschaft ein, öffnete aber den Blick für Möglichkeiten, wie – so der Titel seines Vortrags – „Digitalunternehmen die Welt verändern“. Er berichtete unter anderem über die Allianz-App, die bei Pkw-Kleinstunfällen über Fotografie und Bilderkennung eine Schadenserfassung, -erkennung und -dokumentierung in wenigen Minuten ermöglicht. Veranschaulichte, wie Google Maps über Handy-Bewegungen im New Yorker Stadtgebiet Staus, zähflüssigen Verkehr und freie Strecken visualisiert – aktueller als der dortige Verkehrsfunk. Machte deutlich, dass die Pharmaindustrie aus Medikamenten-Meldungen sogenannte Heat-Maps erstellen kann, die Auskunft über Erkrankungswellen geben können. Und erzählte, dass Amazon aus der Verdichtung von Warenbestellungs-Daten den voraussichtlichen individuellen Bedarf eines Kunden immer besser zu taxieren und zu datieren lernt. Baudis schilderte aus eigener Erfahrung, dass in Singapur die Glasfaser-Verkabelung von 3,5 Millionen Haushalten bevorstand – ein in Deutschland unvorstellbarer Vorgang. Er berichtete von einem autonom fahrenden Pendelbus in Malaysia, da hier niemand die Entwicklung der Auto-Industrie behindere. Er veranschaulichte, wie binnen weniger Tage in Shanghai die Mopeds mit Verbrennungsmotor durch Elektromopeds verdrängt wurden. Und er wies darauf hin, dass im Gegensatz zu deutschen Befürchtungen das autonom fahrende Google-Auto – jetzt Waymo genannt – pro Sekunde 1,3 Millionen Datenpunkte erfasst und verarbeitet, was einen Führerschein für dieses Gefährt praktisch überflüssig macht. „Spiegel online“ veröffentlichte 2017 die Ergebnisse eines kalifornischen „Disengagement“-Reports. Dieser verglich autonome Pkw-Typen und stellte fest, dass der Waymo große Distanzen ohne Fahrer schafft: Nur alle 9.000 Kilometer mussten die Sicherheitsfahrer eingreifen. Mercedes hingegen kam autonom nur zögerlich von der Stelle: Durchschnittlich alle 2,9 Kilometer musste ein Supervisor eingreifen.

Den Zug verpasst?

Daher ärgert sich der Ex-Google-Manager maßlos darüber, dass Asien Vorreiter für Elektromobilität ist und die Vereinigten Staaten zum Marktführer für autonomes Fahren wurden. Hier habe Europa das Heft aus der Hand gegeben und den Zug verpasst. So sei beispielsweise der größte Halbleiterhersteller der Welt zweieinhalb mal so gut bewertet wie BMW, drei der größten Batteriefabriken würden in China aufgebaut, und NIU errichte zurzeit in Shanghai ein Werk, das zu 100 Prozent in Schwarmproduktion arbeitet.

Daher müssten die Europäer das tun, was sie vor drei Generationen getan haben: Verrückte Ideen spinnen und innovativ sein, weil das ihre einzige Chance sei, nicht nur Absatzmarkt und Zulieferer zu sein. Dazu – so Baudis – müsste man wieder in die Zukunft schauen, die Chancen nutzen und richtig Gas geben. Und zwar auf den vier Gebieten, in denen Megatrends ablaufen: Robotik inklusive selbstfahrender Autos, Sensorik beispielsweise für die Landwirtschaft, künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, und schließlich eHealth zur Gesundheitsvorsorge und Therapieunterstützung. Außerdem hätte – schlussfolgerte Baudis – „eine gute technische Intelligenzprogrammierung hätte einen Donald Trump nie hervorgebracht“.

Foto: Harald Heinritz / abfallbild.de

(EU-Recycling 11/2018, Seite 6)

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