Hat angesichts zukünftiger Klimaziele Stahl als Sekundärrohstoff noch eine Chance?
Mit Blick auf CO2-Reduzierung und Energiewende geht es für die Automobilindustrie nicht nur darum, Stahl so klimaneutral wie möglich herzustellen und zu verarbeiten. Sie muss auch darauf achten, welchen zusätzlichen Wert das Material für die Kunden bietet und welchen Beitrag es für die zukünftige Mobilität leisten kann.
Diese Meinung vertritt Johann Prammer, Leiter des Strategischen Umweltmanagements der voestalpine AG. Auf dem Internationalen Automobilrecycling-Kongress im März in Wien präsentierte Prammer Technologietrends bis zum Jahr 2050 für Prozesse und Materialien in der Stahlindustrie. Im Vorfeld des IARC verdeutlichte er seine Position in einem Interview.
Herr Prammer, die Automobilindustrie ist ein wesentlicher Absatzmarkt für den Stahlproduktionssektor. Die größeren Fahrzeughersteller stehen unter Druck, die Kohlenstoff-Emissionen zu reduzieren, und schauen daher darauf, ihre Fahrzeuge so leicht als möglich zu machen. Mit Hinblick darauf: Wie kann sich Stahl gegen leichtgewichtige Metalle wie Aluminium behaupten?
Die neuen EU-Ziele zur CO2-Verringerung bis 2030 für Pkw, Lkw und Busse sind nicht nur technisch recht ambitioniert, sondern auch hinsichtlich der Zeit, berücksichtigt man die konventionelle Produktentwicklung und die Produktionszyklen von Durchschnittsmodellen. Wir beispielsweise helfen dabei, dieses Ziel zu erreichen, indem wir hochfeste Stähle und Komponenten aus Leichtmetall-Legierungen entwickeln. Darüber hinaus arbeiten wir intensiv an Lösungen für alternative Steuersysteme, beispielsweise in der Elektromobilität durch die Entwicklung von speziellem Elektro-Stahl für Motoren oder Materialien zur Batterieherstellung. Obwohl er vor nicht allzu langer Zeit als Autobaumaterial praktisch für tot erklärt wurde, wird Stahl weiterhin eine künftige Schlüsselrolle spielen. Jedes Material hat seine Stärken, und Wettbewerb unter den Materialien kurbelt den Wettbewerb an.
Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang Ansätze wie Kreislaufwirtschaft oder Lebenszyklus-Analyse ein?
Abgesehen von ihren rein materiellen Eigenschaften, wird der ökologische Fußabdruck von Materialien, Produkten und Wertschöpfungsketten insgesamt zu einem zunehmend signifikanten Aspekt. Auch die Langzeit-Strategie der EU „A Clean Planet for All“ betrifft dieses Thema weitreichend. Die Frage bleibt, wie es umgesetzt wird, denn Systemgrenzen, Evaluationskriterien, Messbarkeit und ähnliches müssen erst entwickelt, definiert und transparent gemacht werden. Aus meiner Sicht ist das ein sehr langfristiges Ziel, obwohl es prinzipiell das richtige Ziel ist.
Die Automobilindustrie beispielsweise war der wichtigste Treiber für die Umweltbilanz, und in der Lebenszyklus-Analyse sehen wir beträchtliche Fortschritte in der Bewertung von Stahl im Vergleich zu anderen Materialien – so beispielsweise sein Kohlenstoff-Fußabdruck über die gesamte Lebensdauer, der Energieverbrauch während der Herstellung und die Wiederverwendung in der Produktion, insbesondere als Schrott zur Rohstahl-Herstellung. Mit mehr als 25 Prozent setzt voestalpine einen überdurchschnittlichen Anteil bei seinen Herstellungsprozessen ein, verglichen mit dem EU-Durchschnitt von 19 Prozent oder gar dem von China mit zehn Prozent, nicht zu vergessen die praktisch unendliche Rezyklierbarkeit.
Was ist Ihr Eindruck von der Rolle, die die Rezyklierbarkeit von Materialien derzeit in der Automobilindustrie spielt?
Heutzutage geht es ohne Ansage, dass Recycling ein Teil des Wirtschaftskreislaufs ist, und das schließt die Automobilindustrie ein. Recyclingmaterial wird mit zunehmender Häufigkeit verwendet. Wenn Metallschrott üblicherweise recycelt wird, werden bis zu 100 Prozent der Karosserie benutzt. Hier wird das größte Aufkommen an Rezyklaten gefunden – und auch in Neuwagen. Da diese schon integriert in die Produktion von neuen Stählen in Form von „verarbeitetem Schrott“ sind, brauchen sich Fahrzeughersteller darüber keine Gedanken mehr zu machen. Allerdings ist das mit Kunststoff eine andere Sache, denn im Gegensatz zu Stahl- und Eisen-Materialien benötigen Kunststoffanwendungen separate Prüfungen und eine Zulassung des Recyclingmaterials für jede entsprechende Komponente.
Sekundärrohstoffe können neuen Materialien sogar überlegen sein, da sie weniger anfällig für Größen- und Form-Änderungen sind. Beispielsweise werden bestimmte Komponenten unter Benutzung von recycelten Kunststoffen hergestellt. Allerdings gibt es Beschränkungen für die Menge von Recyclingmaterial, das im Wagen verbaut werden darf. Sicherheitsrelevante Bauteile wie Aufprallstrukturen oder den Airbag betreffende Komponenten bestehen nicht aus Rezyklaten. Diese Materialien zeigen eine leicht vergrößerte Varianz im Vibrationsverhalten und bei der Bruchdehnung, was durch den Einsatz von Additiven kompensiert oder bei der Herstellung der Komponenten in Betracht gezogen werden muss. Das ist der Grund, warum sie für sicherheitsrelevante Komponenten nicht geeignet sind.
Die Stahlindustrie steht auch unter Druck, ihre CO2-Emissionen zu verringern. Ist die Expansion von elektrischen Stahlwerken eine Option oder werden neue Technologien wie die Wasserstoff-basierte Stahlproduktion wahrscheinlicher zum Einsatz kommen?
Wenn wir uns – wie übrigens die europäische Stahlindustrie im Ganzen – auf die Klimaziele verpflichten, dann wird die erforderliche CO2-Verringerung von mindestens 80 Prozent bis 2050 mit den bestehenden Produktionsweisen nicht zu erreichen sein – das heißt mit der Hochofen- und Sauerstoff-Aufblaskonverter-Strecke, die weltweit weiterhin vorherrscht. Elektrische Stahlwerke oder eher Elektrolichtbogen-Öfen werden sicherlich einen Beitrag zur CO2-Produktion in der Stahlherstellungskette der Zukunft leisten. Aber schließlich muss das gesamte Energie- und Rohstoffwirtschaftssystem in Betracht gezogen werden – und das geht einher mit ökonomischer Verfügbarkeit. Abgesehen von möglichen Zwischenschritten, um zum Beispiel Kohle durch Erdgas zu ersetzen, arbeiten wir hart an neuen metallurgischen Technologien, die primär auf Wasserstoff basieren. Andererseits ist es weniger eine Frage von Forschung und Entwicklung als die der breiten Einführung von neuen Verfahren, die letztendlich von der voranschreitenden Bewirtschaftung von Energie und Rohstoffen abhängt. Damit kommen wir zur ursprünglichen Frage zurück, da zukünftige Konzepte für die Automobilindustrie – ob elektrische oder wasserstoffbetriebene Mobilität – vor derselben Herausforderung stehen: Es wird eine vielfache Energie benötigt, die zu konkurrenzfähigen Kosten bei stabiler Versorgung und bei einer am effizientesten möglichen Infrastruktur geliefert werden muss.
Herr Prammer, vielen Dank für das Interview!
Foto: voestalpine AG
(EU-Recycling 06/2019, Seite 17)